Zwei Brüder – eine gemeinsame Liebe

Die einen spielen in São Paulo und in der höchsten brasilianischen Liga, die anderen in einem Londoner Vorort und in der achthöchsten englischen Liga. Doch der Name lässt vermuten: Zwischen dem SC Corinthians Paulista und dem Corinthian-Casuals FC existiert eine Verbindung. Die Fussballlichtspiele St.Gallen haben diese aufgezeigt.

Der Corinthian-Casuals Football Club aus dem Londoner Vorort Tolworth und der weltweit populäre brasilianische Sport Club Corinthians Paulista aus São Paulo hätten sich kaum gegensätzlicher entwickeln können. Auf den ersten Blick scheint es bis auf den Namen keinerlei Gemeinsamkeiten zu geben. Doch die beiden Vereine sind historisch eng miteinander verknüpft. Diese traditionsreichen Geschichten hat Regisseur Chris Watney in einem bildgewaltigen Dokumentarfilm «Brothers in Football» verarbeitet, welcher anlässlich der 6. Fussballlichtspiele St. Gallen über die Leinwand flimmerte.

Gemäss Festivalprogramm sollte dieser um 20:15 Uhr starten. Bis der Vorspann samt Werbung aber durch ist, dauert es an diesem Freitagabend noch einige Minuten. Gemächlich schlendert das Publikum vom Aussenbereich in den Saal. Die für erwachsene Personen etwas gewöhnungsbedürftigen Sitzplätze füllen sich. Dann beginnt eine historische Zeitreise beim Corinthian FC, einem der beiden Vorgängervereine der heutigen Corinthian-Casulas.

Eine bewegte Vereinshistorie

Der Corinthian FC war vor dem ersten Weltkrieg eine der talentiertesten Fussballmannschaften der Welt. Sie hinterfragte die «Kick and Rush»-Taktik und setzte stattdessen auf ein progressives Passspiel. Die Spieler verachteten die brutale und verletzungsgefährdete Spielweise in dieser Zeit. Bei ihnen spielte Fairness eine grosse Rolle. Primär galt der Verein als Kaderschmiede für die englische Nationalmannschaften und wurde ursprünglich als Gegenpol zur Vorherrschaft der schottischen Auswahl gegründet. Die Sportler stammten überwiegend aus dem elitären Nachwuchs an den britischen Universitäten. Dennoch (oder gerade deswegen) ist der Amateurgedanke tief in der Vereinsidentität verankert. So weigern sich die aktiven Spieler bis heute, ein Entgelt für ihr Antreten zu verlangen. Auch rund um den Corinthian FC damals oder den Corinthian-Casuals FC heute engagieren sich alle Helferinnen und Helfer ehrenamtlich.

In seiner Geschichte kämpfte der Verein mit vielen Rückschlägen. Ein prägender Moment war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Spieler auf dem Schiff zu einer zweiten Brasilienrundreise. Sie entschlossen sich für eine sofortige Rückkehr nach Grossbritannien und den unmittelbaren Dienstantritt. Die begnadeten Akteure tauschten das Fussballfeld gegen das Schlachtfeld in Frankreich. Von dieser Tragödie erholte sich der Verein in den nachfolgenden Jahren nicht mehr. Nachdem auch noch ihre ursprüngliche Spielstätte, der Crystal Palace, bis auf die Grundmauern niederbrannte und finanzielle Schwierigkeiten auftauchten, fusionierten die Corinthians mit den Casuals. Heute spielt der Verein in der achtklassigen Isthmian League.

Leidenschaft führt zusammen

Obwohl der Club heute nur noch in den Niederungen des englischen Ligensystems zu finden ist, ist er international bekannt. Vor allem bei den Fans eines brasilianischen Clubs. Bereits im Jahr 1910 tourte der Corinthian Football Club nämlich zum ersten Mal durch Brasilien und begeisterte die Massen. Davon inspiriert entschlossen sich fünf junge Brasilianer, den Sport Club Corinthians Paulista zu gründen. Damals steckte der brasilianische Fussball noch in den Kinderschuhen. Die Pioniere konnten sich wohl kaum vorstellen, welche Strahlkraft der Klub einmal besitzen sollte. Seither feierte der Sport Club Corinthians Paulista mehrere nationale sowie internationale Erfolge. 2012 bezwang die brasilianische Mannschaft an der Clubweltmeisterschaft sogar Chelsea.

Trotz des Erfolgs vergisst der brasilianische Club seine Wurzeln nicht. Als den Corinthian-Casuals Football Club wieder einmal finanzielle Probleme plagten, startete ein brasilianischer Fan eine spezielle Initiative. Dazu erstellte er auf Social Media eine Umfrage und fragte, gegen wen die brasilianischen Corinthians ein Testspiel austragen sollten. Schillernde Namen wie Real Madrid, Barcelona oder eben auch der «Bruderverein» aus London standen zur Auswahl. Entgegen allen Erwartungen gewann der Amateurverein mit einem überraschend deutlichen Vorsprung. Das stellte die Weichen für ein Fussballfest. Schon in den Jahren zuvor besuchten brasilianische Expats aus London vermehrt den englischen Verein, der ihre Historie massgeblich mitprägte. Dadurch hat sich eine starke emotionale Bindung etabliert. Selbstverständlich akzeptierten die Engländer die Einladung. Erwartungsfroh reiste das Amateurteam 2015 nach Brasilien und wurde bereits am Flughafen von leidenschaftlichen Corinthians-Fans empfangen. Die Euphorie flachte während des gesamten Aufenthalts nicht ab und erreichte am Spieltag ihren Höhepunkt. Trotz enormer Leistungsunterschiede verloren die Briten vor einer frenetischen Kulisse nur mit 0:3. Parallel dazu gelang es überlebenswichtige Sponsoringverträge abzuschliessen. Damit war das Fortbestehen eines Traditionsvereins gesichert. Heute noch pflegen sowohl beide Fanlager als auch Vereine einen intensiven Kontakt.

Ein gefühlvolles Meisterwerk

Der rund 90 Minuten dauernde Film von Watney beleuchtet die faszinierende Vereinsgesichte der Corinthian-Casuals. Der Plot ist in einer chronologischen Reihenfolge geordnet und dokumentiert die Geschehnisse ausgesprochen authentisch. In die aktuellen Ausschnitte sind eindrückliche schwarz-weisse Originalaufnahmen eingearbeitet. Mehrere Interviews mit bekannten Persönlichkeiten wie beispielsweise dem ehemaligen Profifussballer Michael Owen verleihen dem Filmstück eine ehrliche Note. Lebendige Szenen aus dem eher tristen Ligabetrieb und verschiedene Aufnahmen der typisch englischen Spielstätte King George’s Field lassen romantische Fussballherzen höher schlagen. Zugleich versprühen die stimmungsvollen Filmsequenzen aus Brasilien einen Hauch südamerikanischer (Fan-)Kultur. Ein unbekümmerter Kontrast gegenüber der englischen Arbeiterklasse, die abseits des Stadions gezeigt wird. Es gelingt dem Regisseur auf hervorragende Art und Weise, den Spagat zwischen Pathos und Tragödie zu bewahren. «Brothers in Football» ist eine Ode an den Amateurfussball und an die verbindende Kraft des Fussballs.

Im Anschluss an die Vorführung an den Fussballlichtspielen St.Gallen erklärte sich der anwesende Regisseur Watney freundlicherweise bereit, einige spezielle Momente mit dem Publikum zu teilen. Besonders eine ungeahnte Begegnung in Zürich ist ihm in Erinnerung geblieben. Bei dieser handelt es sich um ein persönliches Treffen mit Sepp Blatter. Der habe seiner Auffassung zufolge – im Gegenteil zum britischen Fussballverband – ein feines Gespür für den Amateurfussball und daher das Filmprojekt von der ersten Stunde an unterstützt. Die geteilten Erfahrungen verwundern und irritieren zugleich, denn dem ehemaligen Fifa-Präsidenten haften zahlreiche Skandale an. Ein überraschtes Raunen ging durch den Saal. Angesprochen auf die aktuelle finanzielle Situation des englischen Amateurvereins gab Watney Entwarnung. Mittlerweile stehe der Verein auch dank brasilianischer Sponsoren wieder auf halbwegs soliden Beinen. Seit der Filmpremiere im Jahr 2018 erfreut sich der Verein zudem einem regen Zuschauerzulauf. Sportlich lief es eher schlecht als Recht. Auch in der aktuellen Spielzeit rangiert die Mannschaft nur knapp vor einem Abstiegsplatz. So läuft das eben in den Amateurligen – und trotzdem lieben wir alle diese unperfekten Fussball.

Vielfalt in behaglicher Gesellschaft

Nach der Vorstellung ist die Sonne längst verschwunden. Vor dem Figurentheater St.Gallen riecht es wie auf einem Sportplatz nach gegrillten Würsten und frisch gezapftem Bier. Dieses schmeckt vorzüglich. Unter den Festivalbesuchenden herrscht eine familiäre Atmosphäre – man kennt sich grösstenteils. Im liebevoll eingerichteten Bistro gibt es neben anderen Getränken auch Kuchen, selbstgemachte Sandwiches oder Eintopf zu geniessen. Die Gespräche drehen sich um Menschen mit Einschränkungen, Menschen auf der Flucht und charakterstarke Frauen. Alles Themen, die dieses Jahr Eingang in das Programm der Fussballlichtspiele St.Gallen gefunden haben. Drinnen läuft die letzte Vorstellung «Kaiser: The Best Footballer To Never Play Football». Die 6. Fussballlichtspiele St. Gallen neigen sich an diesem Abend langsam dem Ende zu. Den Festivalbesuchenden wurden spannende Unterhaltungen, angeregte Diskussionsrunden mit aussergewöhnlichen Persönlichkeiten und vor allem eins geboten, reichlich Fussballzauber.


An den Fussballlichtspielen St.Gallen wurde auch die neuste Ausgabe des SENF vorgestellt - Peter Zeidler wurde die Ehre zuteil, das Cover zu enthüllen. SENF #18 widmet sich im Titelthema aus Anlass der Rückkehr des Fussballfilmfestivals dem Thema Bewegtbild. Mehr Informationen und Kaufmöglichkeit hier.