«Mein Kopf ist wie ein Flughafen»

Der St.Galler Joachim Rittmeyer (72) steht seit über 40 Jahren auf der Bühne. Der Tätigkeit als Kabarettist waren kurze Intermezzi als Journalist und Primarlehrer vorausgegangen. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Rittmeyer in St.Gallen, seit vielen Jahren ist er in Basel beheimatet. Für die einmalige Fähigkeit, unspektakuläre Personen aus dem Alltag skurril und witzig zu inszenieren, bekam er 1982 den ersten Salzburger Stier überhaupt verliehen, seit 2021 ist er zudem Ehrenpreisträger. Aktuell ist er mit seinem Programm «Knackwerk» auf Tournee. 

Joachim Rittmeyer, Sie haben Mitte Mai Ihren 72. Geburtstag gefeiert. Ab wann ist man zu alt fürs Kabarett?

Wenn man das Gefühl bekommt, man müsse etwas machen, nur weil die Leute es von einem erwarten. Während der Pandemie habe ich tatsächlich gedacht, dass nun ein günstiger Moment sei, um aufzuhören. Wie ein alter Fussballer, der sich nach einer Zwangspause sagt: «Nein, das tue ich mir nicht noch einmal an.» Dann aber haben mich mehrere Anfragen erreicht – und als «Corona-Kollateralgewinn» waren mir in der frei gewordenen Zeit natürlich auch zahlreiche Ideen gekommen.

Sie wurden als Primarlehrer wegen ihrer Militärdienstverweigerung entlassen. War das der ausschlaggebende Grund, um vor über 40 Jahren den Weg zum Kabarettisten einzuschlagen?

Ich war damals als befristeter Stellvertreter im Kanton Zürich angestellt, ehe mich die Schulpflege entlassen hat. Dies hat mich gezwungen, etwas anderes zu machen. Der Entscheid entsprach der damaligen Grundstimmung: Man dient dem Staat, also muss man auch staatlich denken – da hatte es ein Militärdienstverweigerer natürlich schwierig.

Wann lacht Joachim Rittmeyer herzhaft? 

Meistens dann, wenn den Protagonist:innen gar nicht bewusst ist, wie skurril die Szenerie ist. Ich erinnere mich diesbezüglich etwa an den Käsedress der Schweizer Skirennfahrer in den 90er-Jahren. Diese mussten dann im Schweizer Fernsehen mit ernster Miene als personifizierter Käse ihr Verhältnis zu ebendiesem erläutern. Das war schon unglaublich komisch.

Wo hört bei ihnen der Humor auf?

Wenn er nicht mehr überraschend kommt. Und man sich an anderen Menschen «hinauflacht», um sich selbst besser zu fühlen.

Wann spriessen Ihre Ideen am besten?

Mein Kopf ist wie ein Flughafen, auf dem die Landebahnen permanent für Reize und Impulse geöffnet sind. Manchmal ergeben sich im Alltag Situationen, in denen etwas Unerwartetes passiert, dann schreibe ich mir dazu eine Notiz – und vielleicht finde ich später eine passende Verwendung dafür. Eine Idee allein genügt aber nicht, sie muss zwingend eine Form haben.

Das Unerwartete stellt auch in Ihren Programmen ein zentrales Element dar. Sei es, dass eine Rede ausfällt, eine Figur verschwindet oder ein unbekanntes Tier den Veranstaltungsbeginn verzögert. In ihrem neusten Stück «Knackwerk» lässt eine Kunstinstallation das Publikum warten. Was ist der Reiz daran?

Man kann es gut mit dem Fussball vergleichen. Auch hier gibt es diese ereignislosen Spiele, in denen aber jederzeit etwas Spannendes passieren kann. Man kennt zwar den Rahmen, aber ob es ein stetes Abtasten ist oder es gleich voll zur Sache geht, weiss man vorher nicht. Das ist für mich auch eine Metapher für das Leben: Manchmal können Dinge auch in Zeiten entstehen, in denen scheinbar nicht viel läuft.

Auf der Bühne bedeutet das für Sie, unspektakuläre Alltagspersonen skurril und witzig darzustellen?

Genau. Das sind keine Figuren und Typen, bei denen nach wenigen Sätzen bereits die erste Pointe kommt. Es sind gewöhnliche Menschen, in deren Kosmos sich das Publikum erst hineinzuversetzen hat. So gesehen ist es eine Zwischenform von Theater und Kabarett. 

Ihr Publikum ist meist 50 und älter. Interessieren Sie oder das Kabarett die Jungen nicht?

Als ich bei «Giacobbo/Müller» aufgetreten bin, haben auch viele junge Leute im Publikum gesessen.  Es ist eher ein Problem des Mediums. Das Theater hat in meinen Augen bei gewissen Kreisen ein etwas überholtes Image.

Was sagen Sie zu Leuten, die Sie nicht lustig finden?

Wenn du eine bekannte Person parodierst und das Publikum den Kontext kennt, ist dies für viele Leute verständlicher, als wenn du etwa über ein Solarhemd sprichst, das seine Farbe in der Sonne ändert. Für einige Leute ist das zu skurril und sie sind überfordert mit dem nicht greifbaren Problem von jemandem, den es nicht gibt. Das kann ich nachvollziehen und ist Geschmackssache.

Ihr Programm orientiert sich nicht am politischen Zeitgeist und regt kaum gesellschaftskritische Diskussionen an. Machen Sie sich damit weniger angreifbar? 

Ich habe lange als politischer Kabarettist gegolten. Tatsächlich wollte ich vielfach aufklärerisch wirken auf der Bühne. Irgendwann habe ich dann aber entschieden, diese Figuren in Form von Gesellschaftsfunktionär:innen, die ich immer etwas auf dem Kieker hatte, aufzugeben. Ich wendete mich fortan eher den Sonderlingen zu. Andersdenkende, die als Figuren dank ihres Innenlebens und ihrer speziellen Lebenserfahrung aber reichhaltiger sind. Sie sind alles keine Loser, aber auch keine Winner, sie sind schlicht gesellschaftlich nicht relevant. Und das ist meine indirekte politische Botschaft: Diese Menschen sind mindestens so interessant wie all jene, die an den Hebeln sitzen und immer die gleichen Sprüche klopfen.

Musik spielt in Ihren Programmen immer wieder eine Rolle, sei es auf dem Vibrafon oder der Handorgel. Sind Sie ein gescheiterter Musiker?

Meine Mutter war Musikerin. Ich habe Cello und Klavier gespielt, die Sprache und das Darstellerische aber immer als wichtiger empfunden. Das Kabarett hat mir die Möglichkeit gegeben, diese Aspekte zu vereinen. Die musikalische Tätigkeit kommt ja auch in der Dialektik zum Tragen, jede Sprache hat eine eigene Melodie und einen anderen Grundton. Das ist sozusagen eine Ablagerung der Musik.

Eine Ihrer bekanntesten Figuren ist Hanspeter Brauchle – ein Mensch, der mit dem Alltag überfordert ist und ständig Füllsätze wie «Ich chönnt jetzt einiges verzelle» verwendet. Prangern sie damit den Small Talk an?

Hanspeter Brauchle ist wahnsinnig unsicher und fast nicht lebensfähig. Er fasst Kleinigkeiten und Banalitäten auf wie ein Abtrennstab auf dem Förderband der Migros-Kasse, die für ihn dann zu einem riesigen Problem werden. Die erwähnten Füllsätze – gesellschaftlich anerkannte Floskeln – lassen ihn dann wiederum seriös in den Augen der Anderen wirken. Man darf ja im Alltag Unsicherheit nicht zeigen, sonst heisst es: «Da weiss einer nicht, was er will.» In dieser Mischung zwischen skurril und gewöhnlich spielt sich bei Brauchle die Spannung ab. Er schafft eine Resonanz beim Publikum in Form eines Eingeständnisses: Das ist auch eine Seite von mir – die ich allerdings nie so gross machen würde.

Dann gibt es den «Stammtisch-Polterer» Theo Metzler, der zuletzt Bedienungsanleitungen vertont. Woher stammt diese «Kombination des Irrelevanten»?

Das ist nur auf der Bühne bei einer Kunstfigur möglich. Sobald ich aus der Umwelt Reize empfange, schaue ich, zu welcher Figur diese passen und wie ich sie umsetzen könnte. Auch schon kam es vor, dass mir Leute im Alltag ungewollt fertige Szene vorgespielt haben.

Auch Jovan Navo, ein Musiker slawischer Abstammung, zählt zu Ihrem Repertoire. Was ist seine Geschichte?

Die ist mir selbst ein Rätsel, zumal ich oft nach seiner Herkunft gefragt werde. Ich wollte in meinem Ensemble schlicht eine Person, die nicht die Schweizer Sichtweise teilt. Diese musste dann natürlich auch anders sprechen: mit rollendem «R» und Ausdrücken in Schweizer- und Schriftdeutsch. Natürlich fliessen aber auch immer Seiten von mir selbst in meine Figuren ein.

Eine neue Erscheinung ist Adrian Hotz. Ein Zürcher, der Velo-Distanzkellen verkauft. Ein Affront gegen das Schweizer Bünzlitum?

Eigentlich ist er ja einer, der meint, er wisse wo es durchgeht. Er steht mitten im Leben und hat das Gefühl, gesellschaftlich relevant zu sein. Erst mit der Zeit merkt man, dass Hotz eigentlich die skurrilste aller Erscheinungen ist. Im angesprochenen Fall passiert dies rund um die Vermarktung seiner Distanzkelle, die er unbedingt erfolgreich verkaufen will und dafür auch nach China geht.

Hat es als St. Galler einen besonderen Reiz, einen stereotypen Zürcher zu imitieren?

Ich wollte eine Figur schaffen, die als Macher auftritt. Ich bin dann wie ein Komponist, der sich fragt, welches Instrument er für eine spezifische Melodie einsetzt. In diesem Fall musste es ein rustikaler Charakter sein. So bin ich beim Zürcher gelandet – es ist aber tatsächlich etwas plakativ. 

Denken Sie die Geschichten Ihrer Figuren auch weiter? Max Frisch beispielsweise skizziert in «Mein Name sei Gantenbein» ja ganze Leben.

Persönlich denke ich die Geschichten schon weiter. Aber die Protagonist:innen müssen Kunstfiguren bleiben und auf der Bühne wirken. Sonst werden sie immer definierter und es bleibt kein Platz für die Fantasie. Das Publikum soll sich die Geschichte rund um die Person selbst spinnen. Wie beispielsweise beim Fussball: Das Schöne daran ist das Unfertige. Nun wurde der VAR mit dem Ziel eingeführt, dass keine Ungerechtigkeit und keine zwei Meinungen mehr bestehen. Dieses Bedürfnis nach Kontrolle haben wir Menschen stets. Aber dieses Problem löst auch der VAR nicht.

Ein Thema, das bei Fussballfans tatsächlich immer noch Polemik verursacht. Apropos Fans: Merken Sie Publikumsunterschiede zwischen St.Gallen und Ihrer Wahlheimat Basel?

Ich habe gehört, dass der Fanatismus in St.Gallen wohl noch etwas grösser ist, war dort aber schon lange nicht mehr im Stadion. Früher hat man gesagt, dass die St.Galler Anhängerschaft nur auf ihre Farben schaut. In Basel hingegen erlebe ich oft ein Publikum, das auch dem Gegner Aufmerksamkeit schenkt und sich eher auf das Sportliche fokussiert.

Welchen Fussballer würden sie in Ihr Repertoire aufnehmen?

Keinen bestimmten, aber ich schaue mir die Pauseninterviews jeweils an. Da müssen diese «arme Siechen», die vorher die Sprache des Fussballs perfekt beherrschten, unbeholfen undankbare Fragen öffentlich beantworten. Manchmal habe ich das Gefühl, man macht das schlicht, um den Zuschauer:innen zu zeigen: Schau, das ist auch nur ein gewöhnlicher Mensch.

Der FCB duelliert sich mit St.Gallen im Cupfinal. Wo im Stadion nehmen Sie Platz?

Definitiv im St.Galler Sektor. Mit der derzeitigen Basler Clubführung habe ich meine liebe Mühe.


Dieser Text erschien erstmals im SENF #18 – «Bewegt». Die Ausgabe kann hier bestellt werden.

Joachim Rittmeyer tritt vom 13. bis 17. September in der Kellerbühne St.Gallen auf. Infos und Tickets gibt es hier.