Von Hoffnung, Helden und Tragödien

Die vierten Fussballlichtspiele befassten sich während dreier Tage mit der ganzen Spanne der Emotionen, die in den Fussball reinpassen. Von Tragödien zu Helden einer Fussball-Mini-Nation bis zur Hoffnung, mit Fussball gesellschaftliche Themen anzustossen. Der SENF-Rückblick auf Gezeigtes und Gefühltes.

Als sich zum Auftakt der vierten Fussballlichtspiele am Donnerstag die ersten Gäste beim Vorplatz des ehemaligen Kinos Tiffanys einfanden, zogen Wolken auf. Die Laune von Petrus schien Hand in Hand zu gehen mit der Stimmungslage des Auftaktfilms «Hillsborough». Dieser behandelt die Tragödie bei einem Liverpool-Spiel im Jahr 1989, bei welcher 96 Menschen ihr Leben verloren. Staat und Justiz instrumentalisierten die Aussagen der Anwesenden in einer Weise, dass schliesslich hauptsächlich der Alkoholkonsum von Liverpool-Fans der Grund für die Tragödie gewesen sein soll. Der Weg vom Unglück bis hin zur ersten offiziellen Berichtigung der Schuldzuweisung 2016 wird in «Hillsborough» nachgezeichnet. Die Geschichte und dessen Aufarbeitung sind zwar emotional anstrengend, doch Regisseur Daniel Gordon gibt dem Zuschauer zum Ende Tröstendes mit: Der Kampf um Gerechtigkeit lohnt sich, selbst wenn er mehrere Jahrzehnte dauert.

Nach dem Auftaktfilm schienen nicht nur verschiedene Zuschauer etwas Distanz zu den aufwühlenden Bildern des Filmes gewinnen zu wollen, auch Petrus hatte feuchte Augen – es regnete. Einige Zuschauer stärkten sich mit Bier oder einer wahrlich vorzüglichen Bratwurst. Auch Eintopf gab es neu im Angebot. Andere sahen und hörten sich die Ausstellung im ersten Stock über singende Fussballer an.

Unter den Gästen war auch Matthias Hüppi, Präsident des FC St.Gallen 1879. Im offiziellen Eröffnungsakt vor dem zweiten Film des Abends richtete sich Hüppi an die Besucherinnen und Besucher, nachdem der OK-Chef der Fussballlichtspiele, Ruben Schönenberger, unter anderem ausgeführt hatte, wie die Fussballlichtspiele entstanden sind. Hüppi ist froh, sind sie entstanden. Er lobte den Anlass und die Eigeninitiative Ostschweizer Fussballfans, bevor das Licht im Saal wieder gelöscht wurde für den zweiten Film des Startabends, «Nossa Chape», eine Europapremiere.

Dieser handelt von Chapecoense, der brasilianischen Fussballmannschaft, die 2016 mit dem Flugzeug in Kolumbien abstürzte. In der Folge musste eine komplett neue Mannschaft zusammengestellt werden, da nur drei Spieler das Unglück überlebt hatten. Verein und Stadt, geschockt von diesem dramatischen Ereignis, begaben sich auf Sinnsuche und definierten sich neu. Eine Stärke des Films ist, dass er mehrere Perspektiven einnimmt und so zur Diskussion anregt. Eine Eigenschaft, die «Hillsborough» fehlte, da dort die Rollenverteilung in Gut und Böse durch die Filmemacher vorweggenommen wurde. In «Nossa Chape» kommen verschiedene Betroffene zu Wort. Der überlebende Verteidiger Helio Neto wirft dem Verein vor, dieser würde den Flugzeugabsturz kommerziell ausschlachten. Die verwitweten Spielerfrauen fordern derweil Geld vom Verein, was später zu einer Sammelklage führt. Der bemerkenswerte Weg zurück zu einer funktionierenden Erstligamannschaft wird teilweise mit Märchenpathos erzählt, doch die kritischen Bemerkungen sind wohltuend und bieten Chancen zum Diskurs. Diese Chance nutzten anschliessend Moderatorin Corinne Riedener und Gast Toni Saller, Fussball-Ethnologe, der längere Zeit in Brasilien gelebt hat und entsprechend mit den Begebenheiten vor Ort vertraut ist.

Doch vielmehr als Fragen und Antworten, als die Bilder des Streifens, blieb einem ein diffuses Gefühl von Sorge und gleichzeitiger Dankbarkeit. Dankbarkeit für den Fussball als Rückzugsort. Weg von Ängsten und Sorgen, von Dunkelheit, weg erst recht von kaum fassbaren Gedanken über den Tod. Auch Petrus schienen die Geschichten der gezeigten Filme nicht kalt zu lassen – es regnete nun stark. Im Gegensatz zum Wettermacher konnten sich die Anwesenden aber mit Bier, Bratwurst und Eintopf besänftigten und so den emotional herausfordernden Auftaktabend gesellig beschliessen.

Ebenso zum Fussball gehört die Faszination, die von Underdogs und deren heroisch anmutenden Siegen ausgeht. Einem solchen Aussenseiter widmete sich der zweite Tag, denn dieser stand ganz im Zeichen Islands. Jener kleinen Nation im Nordatlantik, welche nicht nur mit ihrer spektakulären Natur punkten kann, sondern seit der sensationellen Qualifikation für die EM 2016 in Frankreich auch Fussball-Herzen höherschlagen lässt. Noch nie hat sich eine so kleine Nation wie Island –gerade mal 335‘000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt das Land – für eine EM qualifiziert. Zwei Jahre später qualifizierte sich das Team auch für die WM in Russland. Natürlich ist Island auch in der WM-Geschichte das einwohnerärmste Land.

Doch was macht diese Mini-Nation nahe des Polarkreises aus? Wie charakterisiert man ihre Bewohnerinnen und Bewohner? Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson geht diesen und anderen Fragen im brandneuen Film «Síðasta áminningin - Last Call» nach. Er kommt dabei zu einigen Schlüssen: Isländerinnen und Isländer haben grosse Träume. Sie sind sich beispielsweise immer sicher, den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Der Isländer oder die Isländerin ist gut darin zu kämpfen, sich hochzuarbeiten, kämpft dann aber damit, oben zu bleiben. Ein Schicksal, dass auch der Nationalmannschaft blühen könnte.

Im Film wird aber auch mit gängigen Island-Mythen aufgeräumt. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist auch in Island nicht so weit fortgeschritten, wie wir in Kontinentaleuropa uns das oft vorstellen. Und auch in Island gibt es Umweltprobleme. Nach dem Film beantwortete Guðmundur Björn Þorbjörnsson, der den Film zusammen mit Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson realisiert hat, Fragen zum Film und zum Land. Dass die Idee für den Film erst im Januar dieses Jahres entstand, und der Film innert kürzester Zeit gedreht wurde, hat die Zuschauerinnen und Zuschauer doch sehr überrascht.

Im zweiten Block des Abends bekamen die zahlreich erschienen Zuschauer mit «Out of Nowhere» einen Kurzfilm zu sehen. Zehn Minuten «Huh!», Original-Kommentar der isländischen TV-Übertragung und Emotionen. Im Film wird auch das Training der Junioren in Island behandelt. Beeindruckend: Einer von 925 Isländern besitzt eine UEFA A- oder B-Lizenz. In England ist das nur einer von 11‘000. Gleich anschliessend folgte mit «Jökullinn Iogar - Wie ein Vulkan» der dritte Film am Island-Abend. Regisseur Sævar Guðmundsson begleitete die isländische Nationalmannschaft während der Qualifikation zur EM 2016. Der Film zeigt immer wieder Einblicke in das Leben der Spieler, Kindheitsvideos und intime Geständnisse inklusive. Dass mehrere Spieler der Isländer an ADHS leiden, hat die Zuschauer doch überrascht. Dass die Spieler zum Teil Kindsköpfe sind und Flausen im Kopf haben, eher weniger. Zweiteres zeigte aber eindrücklich, wie gut der Teamgeist der Mannschaft zu dieser Zeit war: Wie eine Familie hielten sie zusammen. Am Ende des Films bricht der Vulkan Vatnajökull aus. Die Macher schliessen mit «ganz Europa spürt die Kraft des kleinen Islands». Passend. Nach dem Film stellte sich der Regisseur zusammen mit Sölvi Tryggvarson, dem Autor der Geschichte, dem Publikum für Fragen.

Abgerundet wurde der in Zusammenarbeit mit dem Nordklang Festival durchgeführte Island-Abend mit DJ Badrockar – schwedisch für Badmantel – und seiner Reise quer durch die isländische Musikwelt, viel isländischem Einstök-Bier und eher gewöhnungsbedürftigen isländischen Shots.

Am abschliessenden dritten Tag wurden die Besucherinnen und Besucher von den Veranstaltern auf eine Reise mitgenommen, die beinahe um den ganzen Globus führte. Erste Station war Jordanien mit dem Film «17», wo unter den Fussballerinnen der U17-Nationalmannschaft die unterschiedlichsten Charaktere zu finden waren, die von der Freude am Fussball vereint wurden. Die Reise führte weiter zu einer anderen Nationalmannschaft, jener von Jamaika. Diese will sich unbedingt für die WM 2014 qualifizieren, doch der Start der Kampagne gelingt nicht. Der deutsche Kulttrainer Winnie Schäfer soll es richten. Der Film «Reggae Boyz» zeigt aber nicht nur, wie Schäfer ein Team formt, sondern auch, wie er die lokalen Gegebenheiten kennenlernen will.

Der nächste Zwischenhalt erfolgte in Schweden, wo der Spitzenklub FC Rosengard finanziell nicht auf Rosen gebettet ist. Denn – so die These von CEO Klas Tjebbes – die UEFA behandelt den Frauenfussball noch immer nicht korrekt, was zu geringeren Einnahmen führt. Der Film «Football for Better or for Worse» hatte schon am Kicking + Screening-Festival in New York überzeugt, wo er mit der «Goldenen Pfeife» ausgezeichnet wurde. Auch in St.Gallen kam der Film gut an, wie auch die anschliessende Diskussionsrunde, an der neben der Regisseurin Inger Molin und dem bereits erwähnten Klas Tjebbes auch die Trainerin der U19-Nationalmannschaft der Schweiz, Nora Häuptle, sowie die FCZ-Torschützenkönigin Patricia Willi teilnahmen. Ein Mix aus Englisch und Deutsch, aus Fragen zum Filmemachen und zum Frauenfussball, aus Hoffnungsvollem und Ernüchterndem.

Vor dem letzten Block des Abends folgte – wie es mittlerweile zur Tradition geworden ist – der «Zwölf-Einwurf». Auch Chefredaktor Mämä Sykora nahm sich das Tagesthema zu Herzen und führte mit kurzen Ausschnitten aus Berichterstattungen rund um die Welt. In diesem Jahr ergänzte er seine humorvolle Präsentation mit einem Quiz. Die Ehre, den Abend abzuschliessen, blieb dem Film «Triumph» vorenthalten. Die Filmemacher Kreshnik Jonuzi und Luftar von Rama zeigten die Bedeutung der albanischen Nationalmannschaft für das Zusammengehörigkeitsgefühl der in vielen Ecken der Welt lebenden Albaner auf. Im abschliessenden Gespräch führten sie einerseits aus, wie hartnäckig Filmemacher bisweilen sein müssen, um an die richtigen Leute ranzukommen, zum anderen aber auch, wie sehr man danach in Kontakt mit bedeutenden Persönlichkeiten kommt. So nahmen die beiden an einem Festival in Kosovo teil, an dem der albanische Präsident mit ihnen den Film schaute. Ergänzt wurden die Filme am Abschlusstag immer wieder mit Kurzfilmen, die als eigentliche Appetitanreger zwischendurch platziert wurden.

Die vierten Fussballlichtspiele St.Gallen zeigten einmal mehr, welch breite Themenvielfalt man mit Fussballfilmen thematisieren kann. Oder sie zeigten, wie es FCSG-Präsident Matthias Hüppi am Eröffnungstag sagte, dass «der Fussball nicht an der Corner-Fahne aufhört». In diesem Jahr holten die Festival-Organisatorinnen und -Organisatoren dafür so viele internationale Gäste wie noch nie nach St.Gallen. Auch für das OK selbst war das eines der Highlights, wie sie in einer Pressemitteilung zum Festivalabschluss mitteilten. Ein heimliches Highlight kam zudem auch erst in ebendieser zur Sprache. Im Tiffany wurde unter anderem das Cover einer Platte ausgestellt, die Pelé eingesungen hatte. Die schwedische Regisseurin Inger Molin sandte ein Bild davon an Pelés Tochter, die sie am Festival in New York kennengelernt hatte. Diese bedankte sich offenbar umgehend dafür. Eine Randnotiz nur, aber dennoch ein schöner Beleg dafür, dass Fussball die Welt zusammenbringt.