Die Pendler aus Vorarlberg

Vor mehr als 30 Jahren entwickelte sich der FC St.Gallen zu einem beliebten Arbeitgeber für Vorarlberger Fußballer. Sie profitierten von einer Sonderregelung des Schweizer Verbands für Spieler, die im Umkreis von 30 Kilometern lebten.

Die 1980er Jahre waren eine wilde Zeit im Schweizer Fußball. Alternde Stars wie Karl-Heinz Rummenigge, Kurt Jara und Mats Magnusson gaben sich in der damaligen Nationalliga A die Ehre. Ein wenig internationales Flair strahlte auch bis in den Osten, wo beim FC St.Gallen der junge Ivan Zamorano seine Karriere startete, während Marco Tardelli die seine dort ausklingen ließ. Daneben bestand der Kader des Klubs auch aus einigen weniger bekannten Österreichern oder genauer: Vorarlbergern. Denn als sogenannte Grenzgänger belasteten sie das Ausländerkontingent des ältesten Schweizer Clubs nicht. Zu verdanken war dies dem in den 1960er Jahren in die Statuten aufgenommenen Grenzgänger-Paragrafen. Er erlaubte es in Grenznähe gelegenen Vereinen, ihren Einzugsbereich zu vergrößern. Sie durften zusätzlich zum üblichen Ausländerkontingent zwei weitere Spieler mit Amateurstatus verpflichten, die jenseits der Grenze im Umkreis von 30 Kilometern lebten.

Fast schon daheim

Der seinerzeit populärste Grenzgänger war Dietmar Metzler, der 1985 das Dress der «Espen» überzog. Groß geworden war Metzler beim FC Götzis in Vorarlberg, bevor er zum ersten Mal in die Schweiz ging, um beim Amateurklub FC Widnau Tore zu schießen. So viele, dass nach einer Saison der Sport-Club im fernen Wien auf ihn aufmerksam wurde. Metzler wechselte mit 19 zum Bundesligisten in den Osten Österreichs, ein großer Schritt, wie er später dem St.Galler Tagblatt sagte: «Ich bin ein sehr familiärer Mensch. Weit weg von zu Hause war ich nie.» Lang blieb er nicht fort, ein Wechsel zum SK Rapid scheiterte am Geld.

Metzler löste seinen Vertrag in Hernals nach einem Jahr, ging vereinslos zurück und half ab und zu bei Widnau aus. Nach anderthalb Jahren kam das Angebot des FC St.Gallen, das ihm noch einmal die Tür in den Profifußball öffnete. Gleich beim ersten Einsatz gegen den FC Wettingen traf Metzler doppelt und wurde sofort zum Publikumsliebling, auch dank schneller Dribblings und genauer Flanken. «Ich denke, das Publikum spürte meinen Willen und meinen Ehrgeiz», sagte er selbst.

«Didi, Didi», schallte es fortan regelmäßig durch das damalige Stadion Espenmoos, das mit seinen 15'000 Plätzen an die Grounds unterklassiger englischer Vereine erinnerte. Unterstützt wurde Metzler dort auch von einer kleinen Vorarlberger Fangemeinde. Vier Jahre spielte er in der ersten Schweizer Liga, ab 1988 gemeinsam mit Zamorano. Dann lockte noch einmal die Bundesliga, diesmal Linz, wo Metzler zunächst kurz beim LASK, dann bei der VOEST spielte. Ausklingen ließ er seine Karriere bei Altach und Hohenems, später trainierte er den Schweizer Zweitligisten FC Rheineck.

Gemeinsame Anreise

Ein Vorgänger Metzlers beim FC St.Gallen war zwischen 1977 und 1985 der defensive Mittelfeldspieler Martin Gisinger. Er wuchs in Mäder auf und spielte beim Zweitligisten FC Dornbirn. Der Klub orientierte sich nach oben, doch von Profibedingungen konnte keine Rede sein. Gisinger hatte schon mit 22 Jahren in seinem Heimatort ein Haus gebaut und arbeitete nebenbei bei der Raiffeisenbank – oder spielte nebenbei Fußball, je nach Sichtweise. Im Winter 1977 machte St.Gallen seinem Verein ein Angebot, das dieser nicht ablehnen konnte. «Dornbirn ist damals finanziell nicht so gut dagestanden, und der Präsident hat darauf gedrängt, dass ich annehme», sagte Gisinger später. Wenig erfreut sei zunächst sein Mitspieler Gerhard Ritter gewesen, der ihm jedoch ein Jahr später über die Grenze folgte. Gemeinsam fuhren sie täglich eine halbe Stunde zum Training in die Schweiz. Für St.Gallen waren es erfolgreiche Jahre, 1983 und 1985 gelang dem Verein die Qualifikation für den UEFA Cup. Aus dem traditionellen Abstiegskandidaten war ein Spitzenklub geworden, der in Europa sogar gegen Inter Mailand spielen durfte.

Dennoch ging Gisinger seinem Bankjob weiter nach. Als die Doppelbelastung zu viel wurde, durfte er die Trainingszeiten 1983 sogar reduzieren. Er erzielte in der Nationalliga A in sieben Jahren 46 Tore, viele davon per Freistoß. 1984 wurde er mit 18 Treffern zweitbester Torschütze. In dieser Saison wurde er von Teamchef Erich Hof für die Nationalmannschaft nominiert. «Wer schießt denn in St.Gallen die Freistöße, wenn du hier bist?», habe Hans Krankl ihn gefragt, berichtete Gisinger. Nach sieben Einsätzen und zwei Toren war die Teamkarriere jedoch beendet. Hofs Nachfolger Branko Elsner teilte ihm im März 1985 bei seinem ersten und Gisingers letztem Spiel in Tiflis gegen die Sowjetunion mit, dass seine Kondition nur für eine Halbzeit ausreiche. Nach dem Spiel trat Gisinger zurück. Danach konzentrierte er sich auf seinen Hauptberuf und leitete die Bankfiliale bis zu seiner Pension. «Ich war einer der Letzten, die das so durchgezogen haben mit Fußball und Beruf – das geht heute nicht mehr», sagte er kurz vor seiner Pensionierung.

Europäisierung durch Bosman

Gisinger folgte im Mittelfeld des FC St.Gallen im Sommer 1985 Daniel Madlener, der zuvor ebenfalls bei Dornbirn aktiv war. Für Madlener wurde die Schweiz zum Sprungbrett in die Bundesliga: Zwei Jahre später ging er zu Vorwärts Steyr und legte 1988 für Oleg Blochin die Tore zum Aufstieg auf.

Ein weiterer Grenzgänger, der den FC St.Gallen in den 1980er Jahren verstärkte, war ebenfalls ein Mittelfeldspieler, nämlich Hannes Gort. Im Sommer 1983 kam er in die Schweiz und spielte drei Jahre lang in St.Gallen, ehe er in die österreichische Bundesliga wechselte, die Karriere aber bereits mit 25 Jahren beendete. Er wäre im modernen Fußball wohl ein klassischer Sechser, ein Abräumer und Mann des ersten Passes. Im Gegensatz zu anderen Grenzgängern verrichtete Gort seine Arbeit eher unauffällig, erntete aber den Respekt der Fans.

Mit dem Bosman-Urteil von 1995 endete die Epoche der Vorarlberger beim FC St.Gallen. Schließlich bedurfte es der Sonderregelung durch den Grenzgänger-Paragrafen nicht mehr, denn die Freizügigkeit galt nunmehr für alle Fußballer aus dem EU-Raum.


Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 143 des österreichischen Fussballmagazins ballesterer.