Gleichzeitig fiel mir eine Gruppe Jugendlicher auf. «Hmm, diä Gstalte han i hüt obig doch scho mol gseh? Tatsach. Sakrament nomol, i bi im Kreis gloffe», wurde mir bewusst. Aber: Dank des Eingreifens von R.S. war ich kurze Zeit nach der zweiten Begegnung mit der Genfer Jugend wirklich auf Kurs in Richtung Hauptbahnhof. Ich sah endlich den See und fand: «Eigentli jo gar nöd mol so unschöö do.» Statt den Anblick zu geniessen, starrte ich aber weiter in mein Telefon: Eine tolle Idee. Und so verwundert es auch nicht, dass ich schnurstracks in ein massives Steinbänklein spazierte und mir dabei ein Souvenir am Schienbein einfing. Der blaue Fleck ist übrigens erst kürzlich verschwunden.
Wenn schon im «Seich», dann zumindest möglich sparsam
Etwa um Mitternacht – und somit «nur» etwa vier Stunden nach dem Schlusspfiff – erreichte ich tatsächlich den Hauptbahnhof. Meine Spartageskarte für die erste Klasse verkam zu Makulatur. Aber ich hatte doch noch etwas Glück. Um 0.20 Uhr fuhr der letzte Zug nach Lausanne. Kurzentschlossen stieg ich ein. Dafür gabs zwei Gründe: Zum einen befand ich mich so länger in der Wärme. Zum anderen hatte ich das Ticket ja bereits gelöst. Wenn schon im «Seich», dann zumindest möglichst sparsam, dachte ich mir.
Um etwa 1.20 Uhr kam ich in Lausanne an und schlug dort gezwungenermassen mein Nachtquartier auf. Bis der erste Zug in Richtung St.Gallen abfuhr, galt es, gut viereinhalb Stunden zu überbrücken. In der Kälte. Sämtliche Warteräume waren geschlossen und öffneten erst um 4.30 Uhr. Aber auch in Lausanne hatte ich Glück. Die Temperaturen blieben während der Nacht über dem Gefrierpunkt, wenn auch nur knapp. Woher ich das weiss? Vor dem Bahnhof in Lausanne, wo die Taxis auf Kundschaft warten, steht eine Digitaluhr, die abwechselnd die Uhrzeit oder die Temperatur anzeigt.
Gegen 2 Uhr dachte ich mir, dass ich an den See gehen könnte. Ich liess es aber sein, weil ich mich fragte, was sich in einer Februarnacht unter der Woche dort wohl für Gestalten tummeln würden. Im Nachhinein denke ich, dass sie vermutlich aber eher vor mir Angst gehabt hätten. Als mir kurz darauf langweilig wurde, begann ich den Berg vor dem Haupteingang des Bahnhofs hochzustapfen, doch ich kehrte rasch zu meinem Nachtquartier zurück. Es lagen noch gut drei Stunden vor mir. Gott sei Dank hatte ich genügend Tabak. An Schlaf war übrigens nicht zu denken, an eine horizontale Position auf einem Bänklein auch nicht. Durch den Bahnhof zog eine frische Brise.
Kurz nach 3.30 Uhr, ich hatte soeben gepinkelt und die gefühlt 87. Zigarette angezündet, sprach mich ein Typ an. «Est-ce que tu as de l'argent pour moi», fragte er mich. «Non», antwortete ich ihm. Natürlich reichte ihm dies aber nicht. Wenn ich es richtig verstanden habe, fragte er mich anschliessend, ob ich denn nicht etwas Geld für ihn abheben könnte. Ich verneinte auch dies, überliess ihm aber meine ganze mitgeführte Barschaft, die nicht mehr als 2.50 Franken betrug.
Die Wohltat eines Wartesaals
Die Nacht in Lausanne war nicht nur empfindlich kühl sondern vor allem auch – und besonders diesen Punkt hatte ich unterschätzt – lang. Obwohl ich im Rucksack einen Laptop, Kopfhörer und den aktuellen SENF hatte, verbrachte ich die Nacht ohne Musik, Filme oder sonstigem Unterhaltungsangebot. Mehrheitlich stand ich einfach da, rauchte und starrte gebannt auf die Uhr. Etwa fünfmal begab ich mich in einen der Lifte am Bahnhof, um etwas Wärme zu tanken. Als die Warteräume um 4.30 Uhr endlich geöffnet wurden, war es eine Wohltat, in einem von ihnen Platz zu nehmen, auch wenn es dort ebenfalls leicht zog. Um etwa 5.25 Uhr hatte ich es dann tatsächlich geschafft und ich wurde erlöst: Mein Zug fuhr ein und zwanzig Minuten später rollte er los in Richtung Ostschweiz.
Mein «Tagesausflug» endete schliesslich gut 23 Stunden nachdem ich mich am Vortag auf den Weg gemacht hatte. Glücklicherweise hatte ich Ferien und so konnte ich direkt nach Hause ins Bett.
Morgen habe ich zwar auch frei. Dennoch hoffe ich, dass ich heute bei meiner Rückkehr nach Lausanne nicht erneut die ganze Nacht am Bahnhof verbringe. Ich bin zuversichtlich, dass es nicht dazu kommt. Denn heute habe ich ein Gspänli dabei. Sollten wir aber «baba» bleiben, weiss ich zumindest, wo man die ganze Nacht kostenlos pinkeln kann – legal, versteht sich.