Lost in Geneva – Baba à Lausanne

Seit dieser Saison gibts den SENF-Ticker auch von den Auswärtsspielen des FC St.Gallen. Die deutlich längeren An- und Abreisen führen zuweilen zu regelrechten Abenteuern.  Eines davon trug sich im Februar in der Westschweiz zu.

Heute trifft der FC St.Gallen auswärts auf Lausanne. Ach, Lausanne! Erinnerungen kommen auf. Als ich zuletzt dort gewesen bin, habe ich mich vor allem am Bahnhof aufgehalten. Ich kenne ihn nun mehr oder weniger in- und auswendig. Besonders hervorheben möchte ich, dass man dort noch kostenlos pinkeln kann – legal, versteht sich. Und das die ganze Nacht lang.

Ich weiss das nicht ganz freiwillig. Ich bin am 10. Februar nach meinem Tickereinsatz in Genf dort gestrandet. Heute werde ich erstmals wieder in Lausanne sein, hoffentlich nicht erneut bis 5.43 Uhr des Folgetages.

Das Februarabenteuer begann mit einer Kinderfestbratwurst um die Mittagszeit in St.Gallen. Weil kein normaler Mensch – und auch kein anderes SENF-Kollektivmitglied – an einem hundskommunen Mittwoch Zeit hat für einen Spielbesuch um 18.15 Uhr am westlichsten Zipfel des Landes, begab ich mich alleine auf den (vermeintlichen) Tagesausflug. Wobei, das ist nur die halbe Wahrheit. Begleitet wurde ich zunächst von gelb-rot gekleideten Hülsenfreunden. Auf der Fahrt verliessen diese mich jedoch Stück für Stück. Entsprechend freudig, gut gelaunt und leicht schwankend kam ich in Genf an.

Den Weg vom Bahnhof zum Stadion meisterte ich wie ein Grosser. Souverän stieg ich in die richtige S-Bahn und anschliessend in den korrekten Bus. Vor dem Stadion hielt ich dann einen Schwatz mit dem Medienverantwortlichen der Genfer. Ein flotter Kerl! Kurz darauf fand ich Einlass, begab mich auf die Medientribüne, verfasste meinen ersten Ticker-Eintrag und ging in den Medienraum. Und das Übel nahm seinen Lauf.

Vermaledeiter Weisswein

Im Medienraum stiess ich völlig unverhofft auf zwei Flaschen Weisswein. Grossartig, phänomenal, fantastisch! Aber überhaupt nicht eingeplant und somit nicht im Konsumplan vorgesehen. So kam es, wie es kommen musste. Meine Ticker-Leistung liess – gelinde gesagt – zu wünschen übrig.

Immerhin setzte ich die Vorgabe der SENF-Chefetage um, nicht zu viel über das Spielgeschehen zu schreiben oder gar die Aufstellungen zu publizieren. Das war an jenem Abend aber auch nicht wirklich schwer. Wer braucht schon ein Matchblatt, wenn er Weisswein für lau haben kann? – Genau. Niemand. Dass ich während der ersten Halbzeit um ein Haar den gehaltenen Penalty von Zigi verpasst hätte, war vermutlich dann doch des Guten zu viel. Im Gruppenchat gabs dafür gar ein «Alte» von R.S. Bis heute ist mir schleierhaft, weshalb sich der Genfer überhaupt am Penaltypunkt präsentiert hatte.

Kaum ein anderer SENF-Ticker weist weniger Einträge auf als jener vom 10. Februar 2021. Meine Performance kostete das Kollektiv gar einen Follower auf Instagram: Oops. Das war aber bei Weitem nicht das grösste Oops des Abends. Wegen meiner zugegebenermassen stümperhaften Vorbereitung hatte ich beim Schlusspfiff nicht die leiseste Ahnung, wo mein Bus um 20.29 Uhr fährt. Das Problem: Dieser Bus war meine einzige Hoffnung. Nun gut, das stimmt nicht ganz. Nachdem klar war, dass ich es nicht mehr alleine nach Hause schaffen würde, hatte ich in kürzester Zeit ein Übernachtungsangebot aus Basel. Meine Schwester bot zudem an, mich in Zürich abzuholen und eigentlich hätte ich sogar ein Hotel nehmen können; was mir übrigens meine SENF-Gspänli auch eindringlich ans Herz gelegt haben. Und was tat ich? Ich setzte mir in den Kopf, an den Hauptbahnhof zu spazieren. Völlig logisch, schliesslich fahren in einer Stadt wie Genf ab 20.30 Uhr ja keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. So en Tubel.

Da war ich nun also. Herrlich angetrunken, «baba» wie einst Simone in Paris und bis in die Haarspitzen motiviert zu spazieren. Mein Telefon sollte mir am Tag darauf nach Schlusspfiff über 20'000 Schritte anzeigen. Keine Ahnung, wo ich überall war. Aber einen kleinen Umweg habe ich bestimmt zurückgelegt. Ich irrte umher im abendlichen Genf. Mein Telefon vibrierte fast im Sekundentakt. Es herrschte helle Aufruhr. Irgendwann war ich dann nur noch genervt und ob der ganzen Ratschläge und Anweisungen zusätzlich verwirrt. Und zu allem Überfluss – und ich bin überzeugt davon – hat mich an jenem Abend mein ach so smartes Phone fehlgeleitet. Ich war bereits mehrere Stunden unterwegs (gemäss Google Maps hat man 53 Minuten von Stadion bis zum Hauptbahnhof) als sich ein R.S. bei mir meldete und nach meinem Standort fragte. Ich sagte, dass ich noch gut 20 Minuten vom Ziel entfernt sei. Ich wunderte mich darüber. Eigentlich hätte ich nämlich bereits längst dort sein sollen. R.S. bat mich, meinen Standort per Whatsapp zu teilen und er sah Folgendes: Ich befand mich weiterhin im Niemandsland und spazierte natürlich nicht in Richtung Hauptbahnhof, sondern entfernte mich gerade davon.

Gleichzeitig fiel mir eine Gruppe Jugendlicher auf. «Hmm, diä Gstalte han i hüt obig doch scho mol gseh? Tatsach. Sakrament nomol, i bi im Kreis gloffe», wurde mir bewusst. Aber: Dank des Eingreifens von R.S. war ich kurze Zeit nach der zweiten Begegnung mit der Genfer Jugend wirklich auf Kurs in Richtung Hauptbahnhof. Ich sah endlich den See und fand: «Eigentli jo gar nöd mol so unschöö do.» Statt den Anblick zu geniessen, starrte ich aber weiter in mein Telefon: Eine tolle Idee. Und so verwundert es auch nicht, dass ich schnurstracks in ein massives Steinbänklein spazierte und mir dabei ein Souvenir am Schienbein einfing. Der blaue Fleck ist übrigens erst kürzlich verschwunden.

Wenn schon im «Seich», dann zumindest möglich sparsam

Etwa um Mitternacht – und somit «nur» etwa vier Stunden nach dem Schlusspfiff – erreichte ich tatsächlich den Hauptbahnhof. Meine Spartageskarte für die erste Klasse verkam zu Makulatur. Aber ich hatte doch noch etwas Glück. Um 0.20 Uhr fuhr der letzte Zug nach Lausanne. Kurzentschlossen stieg ich ein. Dafür gabs zwei Gründe: Zum einen befand ich mich so länger in der Wärme. Zum anderen hatte ich das Ticket ja bereits gelöst. Wenn schon im «Seich», dann zumindest möglichst sparsam, dachte ich mir.

Um etwa 1.20 Uhr kam ich in Lausanne an und schlug dort gezwungenermassen mein Nachtquartier auf. Bis der erste Zug in Richtung St.Gallen abfuhr, galt es, gut viereinhalb Stunden zu überbrücken. In der Kälte. Sämtliche Warteräume waren geschlossen und öffneten erst um 4.30 Uhr. Aber auch in Lausanne hatte ich Glück. Die Temperaturen blieben während der Nacht über dem Gefrierpunkt, wenn auch nur knapp. Woher ich das weiss? Vor dem Bahnhof in Lausanne, wo die Taxis auf Kundschaft warten, steht eine Digitaluhr, die abwechselnd die Uhrzeit oder die Temperatur anzeigt.

Gegen 2 Uhr dachte ich mir, dass ich an den See gehen könnte. Ich liess es aber sein, weil ich mich fragte, was sich in einer Februarnacht unter der Woche dort wohl für Gestalten tummeln würden. Im Nachhinein denke ich, dass sie vermutlich aber eher vor mir Angst gehabt hätten. Als mir kurz darauf langweilig wurde, begann ich den Berg vor dem Haupteingang des Bahnhofs hochzustapfen, doch ich kehrte rasch zu meinem Nachtquartier zurück. Es lagen noch gut drei Stunden vor mir. Gott sei Dank hatte ich genügend Tabak. An Schlaf war übrigens nicht zu denken, an eine horizontale Position auf einem Bänklein auch nicht. Durch den Bahnhof zog eine frische Brise.

Kurz nach 3.30 Uhr, ich hatte soeben gepinkelt und die gefühlt 87. Zigarette angezündet, sprach mich ein Typ an. «Est-ce que tu as de l'argent pour moi», fragte er mich. «Non», antwortete ich ihm. Natürlich reichte ihm dies aber nicht. Wenn ich es richtig verstanden habe, fragte er mich anschliessend, ob ich denn nicht etwas Geld für ihn abheben könnte. Ich verneinte auch dies, überliess ihm aber meine ganze mitgeführte Barschaft, die nicht mehr als 2.50 Franken betrug.

Die Wohltat eines Wartesaals

Die Nacht in Lausanne war nicht nur empfindlich kühl sondern vor allem auch – und besonders diesen Punkt hatte ich unterschätzt – lang. Obwohl ich im Rucksack einen Laptop, Kopfhörer und den aktuellen SENF hatte, verbrachte ich die Nacht ohne Musik, Filme oder sonstigem Unterhaltungsangebot. Mehrheitlich stand ich einfach da, rauchte und starrte gebannt auf die Uhr. Etwa fünfmal begab ich mich in einen der Lifte am Bahnhof, um etwas Wärme zu tanken. Als die Warteräume um 4.30 Uhr endlich geöffnet wurden, war es eine Wohltat, in einem von ihnen Platz zu nehmen, auch wenn es dort ebenfalls leicht zog. Um etwa 5.25 Uhr hatte ich es dann tatsächlich geschafft und ich wurde erlöst: Mein Zug fuhr ein und zwanzig Minuten später rollte er los in Richtung Ostschweiz.

Mein «Tagesausflug» endete schliesslich gut 23 Stunden nachdem ich mich am Vortag auf den Weg gemacht hatte. Glücklicherweise hatte ich Ferien und so konnte ich direkt nach Hause ins Bett.

Morgen habe ich zwar auch frei. Dennoch hoffe ich, dass ich heute bei meiner Rückkehr nach Lausanne nicht erneut die ganze Nacht am Bahnhof verbringe. Ich bin zuversichtlich, dass es nicht dazu kommt. Denn heute habe ich ein Gspänli dabei. Sollten wir aber «baba» bleiben, weiss ich zumindest, wo man die ganze Nacht kostenlos pinkeln kann – legal, versteht sich.