Adelige in spe
Remo Zollinger,
04.02.2021,
Spieler & Statistiken
Peter Zeidler und Alain Sutter haben in St. Gallen Verträge bis 2025 unterschrieben. Ebnen sie sich damit den Weg zum Legendenstatus? Eine Leseprobe aus der aktuellen SENF-Ausgabe.
Mitten im Sommer, der Himmel über St.Gallen war sportlich wie meteorologisch so klar wie noch selten, liess der FCSG eine Bombe platzen. Er lud am 15. Juli auf den Nachmittag zu einer Pressekonferenz, an der «richtungsweisende Entscheidungen» bekanntgegeben werden sollten. So stand es in der kryptisch gehaltenen, um 10 Uhr versandten Einladung. Die Folge war, dass sich Fans und Presse am Vormittag alle möglichen Szenarien ausdachten, was nun geschehen könnte. Steckt der FCSG finanziell wegen Corona doch mehr in der Patsche, als es immer hiess? Wer vom Dreizack Hüppi-Sutter-Zeidler verlässt die Ostschweiz? Kommt es gar zu einer Zusammenarbeit mit den Dosenfussballclubs aus Leipzig und Salzburg? Und muss das genau jetzt sein, wo es doch endlich wieder einmal gut läuft?
Die unguten Vorahnungen gründen auf einem Misstrauen, das sich in St.Gallen während vieler Jahre Misswirtschaft und böser Überraschungen entwickelt hat. Sie gründen auch auf der eher reservierten Psyche der Ostschweizerinnen und Ostschweizer, die es am liebsten beständig haben – eine Eigenschaft, die den FC St.Gallen in den letzten beiden Jahrzehnten nun wahrlich nicht gekennzeichnet hat. Gab es in den letzten Jahren derart grossspurig angekündigte Neuigkeiten, waren sie meistens negativ. Mitte Juli belegte der FC St.Gallen trotz zweier Remis in den letzten beiden Spielen noch den ersten Rang, einen Punkt vor den Young Boys. Warum wählen sie den Zeitpunkt bloss so ungünstig, das kann ja nur Unruhe ins Meisterrennen bringen, war der Tenor.
Über 20 Journalistinnen und Journalisten versammelten sich im Bauch des Winkler Stadions. Das kommt eher selten vor, doch die geheimnisvolle Einladung zog Medienvertretende aus der ganzen Schweiz an. Sie bekamen dann aber nicht das Spektakel, das vielleicht schon im einen oder anderen Vorratstext geschrieben worden war und nur darauf wartete, veröffentlicht zu werden. Nein, die Meldung war eine ganz andere, jedoch nicht minder überraschende. Trainer Peter Zeidler und Sportchef Alain Sutter haben in der Ostschweiz Verträge bis 2025 unterzeichnet.
Schlagzeilen machte auch diese Meldung, sind Verträge mit dieser Laufzeit im schnelllebigen Fussballgeschäft doch alles andere als üblich. 2025 würde Zeidler sieben Jahre im Amt gewesen sein, das ist mehr als jeder andere St.Gallen-Trainer in der Vergangenheit. Er würde somit sogar den legendären Willy Sommer übertrumpfen, der in seinen sechs Jahren als FCSG-Trainer, von 1975 bis 1981, sogar einmal zum Schweizer Trainer des Jahres gewählt wurde. Auf ihn folgt in der Rangliste der Trainer, die Grün-Weiss am längsten trainiert haben, schon Jeff Saibene, der viereinhalb Jahre hier war.
Matthias Hüppi weiss, wie das Spiel mit den Medien funktioniert. Er war – teils gemeinsam mit Sutter, vor allem aber mit Bernhard Russi – jahrelang ein Teil davon. Eine PK mit so viel Brimborium anzukündigen und dann eine solche Meldung an die Öffentlichkeit zu bringen, hat schon Klasse. Er führte seine alten Kolleginnen und Kollegen wohl auch ein wenig an der Nase herum. Sein typisches, leicht schelmisch anmutendes Lächeln trug er an diesem Tag jedoch nicht deshalb, sondern weil ihm etwas gelungen war, mit dem niemand gerechnet hatte. Denn ein Coup nur um des Coups willen war es nicht. «Wir wollen ein Signal an die Fans und die Aktionärinnen und Aktionäre senden», sagte Hüppi. Er sagte auch, eine solche Aktion sei «nicht üblich», aber auch «kein Hauruck», sondern wohlüberlegt. Und: Konstanz würde diesem Verein wohl nicht schaden.
Gerade im Hinblick darauf, dass die beiden neben Hüppi den Erfolg mitprägenden Männer ihre Arbeit nicht im stillen Kämmerchen verrichtet haben, ohne Aufmerksamkeit anderer Clubs zu wecken, war diese Vertragsverlängerung eine Überraschung. Der Schwabe Zeidler stand gemäss Mutmassungen bei Hoffenheim und Stuttgart auf der Liste; Vereine, die aus der Nähe seiner Heimat kommen. Um Sutter hielten sich lange Zeit sehr hartnäckige Gerüchte um einen Wechsel zur Schweizer Nationalmannschaft, bis Pierluigi Tami den Posten des Teammanagers übernahm. «Unsere Zusammenarbeit ist einzigartig, uns verbindet ein blindes Verständnis. Ich freue mich jeden Tag, bei der Arbeit Peter zu sehen», liess sich Sutter nicht ohne Pathos zitieren. Doch Pathos hin oder her: Wann man zuletzt solche Töne über den FC St.Gallen gehört hatte, weiss wohl kaum noch jemand. Sogar den legendären, aber wortkargen Meistertrainer Marcel Koller zog es relativ schnell nach dem grossen Erfolg weiter.
St.Gallen hatte sich 2019/20 angeschickt, eine Euphoriewelle loszutreten. Sie begann mit einer Siegesserie in der Hinrunde, es folgten viele hervorragende Auftritte, auch gegen «grössere» Clubs, woraus der zwischenzeitliche erste Rang resultierte. Der Club tat das Seine dazu. Hüppis Ankündigung der «grün-weissen Welle», die die Ostschweiz erfassen sollte, entstammte zwar von etwas gar tief unten in der Schublade der Marketingphrasen, im Kern gelang ihm dieses Vorhaben aber. Weil die Mannschaft auch wegen Zeidler und Sutter erfolgreichen Fussball spielte und sie sich anlässlich der Sommer-Aktion «Espen on Tour» nahbar zeigte, war es plötzlich wieder chic, ins Stadion zu gehen. Und hätte man dies einen Tag nach der Bekanntmachung der 2025er-Verträge tun dürfen, hätten die Fans ein sauberes 4:1 gegen den ehemaligen Angstgegner Luzern gesehen. Es wäre wieder einer dieser aufwühlenden Fussballtage in der Ostschweiz gewesen.
Dem Erfolg der letzten Saison tut es keinen Abbruch, reichte es nicht zum ganz grossen Wurf in Form des Meistertitels. Etwas bitter war es schon, wer weiss, wann der FCSG dem Pokal wieder so nahekommen wird. Aber was sich 2019/20 abspielte, war grosse Klasse. So grosse Klasse, dass Zeidler sich selber eine schwierige Aufgabe gestellt hat. Obwohl die Erwartungshaltung bei den meisten im Umfeld des FCSG realistisch ist, wird er, ob bewusst oder unbewusst, an der letzten Saison gemessen. Und weil dem Verein die Mittel fehlen, Abgänge wie Silvan Hefti oder Cedric Itten mit gleicher Qualität zu ersetzen, werden ihm immer wieder Knebel zwischen die Beine geworfen werden, wenn es um die Konstruktion einer tragfähigen Achse in der Mannschaft geht. Das verkompliziert seine Aufgabe ungemein. Entscheidend wird sein, wie sehr er sich dessen bewusst ist und welche neuen Spieler der auch schon als «Trüffelschwein» bezeichnete Sutter aus dem Hut zaubert. Und wie es Hüppi gelingt, den Spannungsbogen der grün-weissen Bewegung aufrecht zu erhalten. Auch langjährige Clubfunktionäre sind nicht vor Gegenwind gefeit.
Dies soll nun weder ein Kaffeesatzlesen bezüglich Zukunft noch ein Vergleich mit anderen Trainern werden, die lange im Amt waren – bisher hat Zeidler ja «erst» zweieinhalb Jahre hier verbracht. Vielmehr ist es schlicht als gutes Zeichen zu werten, wenn ein 58-jähriger Trainer mit deutschen Wurzeln sich gegen die Bundesliga und vor allem für den FC St.Gallen entscheidet. Und wenn Sutter, immerhin jahrelang Aushängeschild der Nati, sich gegen diese und für die Ostschweiz entscheidet. Ob es ihnen gelingt, in den Kreis der Ostschweizer Fussballadligen aufzusteigen, wird die Zukunft zeigen. Und zwar die Zukunft, die der Dreizack an der Vereinsspitze nun mit Bedacht gestalten kann. Die letzte Saison wird noch lange nachhallen, auch die Dankbarkeit dafür. Die Toleranz für ausbleibende Punkte ist durch sie wieder grösser geworden. Dem harmoniebedürftig wirkenden, aber durchaus auch fordernden Hüppi ist mit der Vertragsverlängerung etwas gelungen, was in der Ostschweiz noch selten der Fall war: Es ist zurzeit ruhig um den FC St.Gallen. Und das ist der eigentliche Coup hinter der Pressekonferenz vom 15. Juli 2020. Natürlich gibts leidenschaftliche Diskussionen, gelingt mal etwas nicht so, wie es soll. Aber an den vertragsverlängerten Grundfesten des Clubs rüttelt zurzeit niemand. Zeidler sitzt so fest im Sattel wie kein anderer Trainer in dieser Liga. Und dennoch wissen hier alle, dass er sich bestimmt nicht zurücklehnt. Seine Neugier, sein Hunger auf Erfolg verbieten ihm das.
Dieser Artikel erschien erstmals in der 13. Ausgabe des St.Galler Fussballmagazins SENF.