Hamburg im Ausnahmezustand

Sieben Saisons lang spielten der Hamburger SV und der FC St.Pauli in unterschiedlichen Ligen. Entsprechend hoch zu und her geht es in dieser Saison bei den Stadtderbys, die gleich die ganze Stadt in den Ausnahmezustand versetzen. So auch gestern Sonntag beim Rückspiel auf St.Pauli.

Die lokalen Medien waren schon tagelang voll mit Berichten zum Stadtderby. Von Artikeln über die Fanrivalität («Böller gezündet, Parolen gegrölt: 300 vermummte HSV-Hooligans ziehen durch Eimsbüttel» in der Hamburger Morgenpost oder «Polizei rechnet mit 1'100 gewaltbereiten Derby-Fans» im Hamburger Abendblatt) über Verbalduelle zwischen ehemaligen Spielern bis hin zu Derby-Countdowns und Public-Viewing-Tipps gab es alles zu lesen.

Auch die Zahlen zum jüngsten Stadtderby sind eindrücklich: TV-Übertragungen in 60 Länder, 80 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt vor Ort, 1'800 Polizisten im Dauereinsatz, rund 400 Ordner im Millerntor-Stadion und 29'226 Fans (davon 2'486 HSVler im Gästebereich). Auch wir reisten für dieses brisante Derby wie schon im Dezember in die Hansestadt.

Totenköpfe überall

Bereits bei der Ankunft am Flughafen wurde klar, dass wir nicht die einzigen waren, die extra für das Stadtderby anreisten. Bereits kurz nach der Landung erblickten wir dank der auffälligen Totenkopf-Pullover die ersten (ausländischen) St.Pauli-Fans. Auch ansonsten schient der Kiezclub in der Stadt präsenter.

Lediglich am Vorabend des Derbys konnten die HSV-Fans (mehr oder weniger) eindeutig identifiziert werden. Dies jedoch nicht aufgrund ihrer Fanutensilien – die schwarzen North Face-Jacken standen auch bei den Pauli-Fans Hoch im Kurs – sondern aufgrund der behördlich angeordneten Fan-Trennung der Reeperbahn. Rund um den Hans-Albers-Platz war das designierte HSV-Gebiet. Weiter nördlich, Richtung Millerntor-Stadion, befand sich hingegen das Hoheitsgebiet der Sankt Pauli-Fans.

Polizisten überall

Am Spieltag lag der Fokus dann zuerst auf den HSV-Fans. Ihr Fan-Marsch führte vom S-Bahnhof Hamburg Dammtor zum Gästebereich, welcher sich unmittelbar neben der U-Bahnhaltestelle Feldstrasse befindet. Sie taten das mit viel Polizeipräsenz. Aber auch sonst waren die Ordnungshüter überall vertreten. So zum Beispiel bei der U-Bahnhaltestelle St.Pauli, wo mehrere Einsatzwagen der Polizei stationiert waren.

Je näher wir dem Stadion kamen, desto greifbarer war die Anspannung. Zahlreiche Fans versuchten in letzter Sekunde noch an ein Ticket zu kommen, wobei ein St.Pauli-Fan sogar bereit war seine Seele für ein Ticket zu tauschen – zumindest stand das auf seinem Kartonschild. Wir überlegten ganz kurz, ob wir darauf eingehen sollten, liessen angesichts der vielen vorfreudigen Fans jedoch davon ab. Wir sollten es nicht bereuen.

Kaum im Stadion angekommen, wurde uns endgültig bewusst, was für ein Spiel wir gleich miterleben sollten: Es ging um nichts weniger als die städtische Vorherrschaft. Wer sollte für die nächste Zeit die Nummer Eins in Hamburg sein? Der «kleine» Kiezclub FC St.Pauli oder der nicht mehr ganz so unabsteigbare Hamburger Sportverein? Mit wem man auch sprach, die Antworten über den Verlauf und den Ausgang der Partie waren zahlreich. Wir beschränkten uns darauf zu verweisen, dass wir als Schweizer neutral zu bleiben hätten und uns lediglich ein gutes Spiel erhofften.

Pyro überall

Die Fans der beiden Hamburger Vereine zogen während des gesamten Spiels sämtliche Register. Während die St.Pauli-Fans unter anderem den eigenen Wahnsinn beschworen, begnügten sich die HSV-Fans darauf zu verweisen, dass dies ihre Stadt sei und es nur einen Verein in Hamburg gebe. Allgemein kamen die Zuschauer fantechnisch vollends auf ihre Kosten. Es gab mehrere Choreografien, gegenseitige Provokationen und massig Feuerwerk. Offenbar soll der Einsatz dieses verbotenen Stilmittels in der 81. Spielminute beinahe zum Abbruch geführt haben. Bereits vorher fielen die Reaktionen der Fans auf der Gegengerade jeweils sehr harsch aus, wenn Pyrotechnik zum Einsatz kam.

Nicht nur die Fans boten Spektakel, die Begegnung wusste durchaus auch auf dem Rasen zu überzeugen. Die beiden Mannschaften schenkten sich nichts. St.Pauli begnügte sich dabei über weite Strecken des Spiels darauf, dem HSV das Spieldiktat zu überlassen und auf schnelle Konter zu hoffen. Dies gelang jedoch nicht wirklich, da der HSV nur wenige Fehler machte. So dauert es bis zur 32. Minute, bis das erste Tor zugunsten des HSV fiel – notabene nicht aus dem Spiel heraus, sondern in Folge eines Freistosses an der Strafraumgrenze.

Kurz nach dem Seitenwechsel hatten die Kiezkicker die Ausgleichschance, welche jedoch durch eine Glanzparade des HSV-Keepers verhindert wurde. Spätestens nach dem 2:0 in der 53. Minute durch den Aussenverteidiger Khaled Nareay war die Luft bei St.Pauli draussen. Pierre-Michel Lasogga traf anschliessend in 61. Minute zum zweiten Mal und sorgte damit für die endgültige Vorentscheidung. Das 4:0 in der 88. Minute war nur noch eine Randnotiz – für die Fans war das Spiel längst gelaufen. Insbesondere die HSV-Fans freuten sich unüberhörbar über den ersten Derbysieg seit 17 Jahren.

Und wir? Wir kommen bestimmt wieder. Oder wie es die Schlagerlegende Freddy Quinn so treffend singt: «Du musst mal wieder, wieder nach St.Pauli gehn!»