«Oh, Saint Gallen, you were absolute crazy nutters.» In Swansea erinnert man sich noch gut an das Gastspiel des FC St.Gallen.
Mein damaliger Ethnologie-Professor Christian Giordano selig sprach wie immer monoton und mit italienischem Akzent. Er war aber so gut und vor allem lieb, dass alle Studentinnen und Studenten ihn gern als Grossvater gehabt hätten. Diese Aura strahlte er auch aus, als er im Auditorium 1 in Fribourg von Lieux de Mémoire sprach, von Erinnerungsorten.
Es muss 2006 oder 2007 gewesen sein. Und wie so manches aus der Völkerbeobachtung war auch der Erinnerungsort ein Konzept, dessen Sinn ich nachvollziehen konnte. Lieu de Mémoire beschreibt einen Ort, an dem sich das kollektive Gedächtnis einer Gruppe wieder trifft, weil er eine identitätsstiftende Bedeutung hat.
In Swansea hat alles gepasst
Für uns St.Gallen-Fans ist das Espenmoos so ein Erinnerungsort. Oder das Liberty Stadium in Swansea. Wen immer man auch fragt, der Höhepunkt von St.Gallens Europacup-Saison 2013 war das Auswärtsspiel in Wales. In der imaginären Rangliste der meisten steht es noch vor dem Wunder von Moskau, auch vor dem elektrisierenden Heimspiel gegen Valencia.
Swansea, da hat einfach alles gepasst. Die Stadt war klein, so klein, dass man sich geradezu gemeinsam aufs Spiel einstimmen musste. Es folgte ein schöner Marsch zum Stadion und vor allem eine Stimmung, die sich wohl ohne Zweifel als die beste jemals von dieser Kurve erzeugte Stimmung beschreiben lässt. Auch die Ältesten bekamen Gänsehaut.
Ich würde viel darauf wetten, dass keiner der anwesenden St.Galler dieses Spiel vergessen hat. Alle mögen sich an diese Stimmung erinnern; an die Kamine von den Reihenhäusern entlang der Strasse zum Stadion. Daran, dass aus manch einem Zug von London Paddington nach Swansea mit Fortdauer der Fahrt ein Extrazug wurde.
Eine hässliche Stadt mit freundlichen Menschen
Zeitsprung ins letzte Wochenende. Rick, Alan und sein Sohn sitzen im «Smith’s Arms», einem Pub, das auch so einen Kamin hat wie die anderen Häuser nebenan. Zwei von drei trinken fleissig Bier, ein Pint ums andere, nur der Sohn darf nicht. Die drei merken rasch, dass die soeben eingetretenen Gäste sich auf Italienisch unterhalten und wohl zu den Gästefans des Testspiels zwischen Swansea und Atalanta gehören.
Rick, Alan und Sohn sind neugierig. Schon vor sechs Jahren fiel mir auf, dass die Hässlichkeit der Stadt nicht bedeuten muss, dass die Menschen unfreundlich sind. Und auch am letzten Samstag ergab sich wieder das eine oder andere lustige Gespräch mit den Walisern.
St.Gallen hat bleibenden Eindruck hinterlassen
Und dann werden die drei plötzlich laut. Der Grund dafür ist ein Ortsname: St.Gallen. Rick, Alan und Sohn haben herausgefunden, dass dies mein Zuhause ist und ich nicht zum ersten Mal in Swansea war. Und ich, dass nicht nur wir das Gastspiel der St.Galler in Wales nicht vergessen haben. «Oh, Saint Gallen, you were absolute crazy nutters, a great bunch of Supporters», sagt Rick mit bebender Stimme, als wäre ich sein Neffe, der ihn nur einmal alle sechs Jahre besuchen kommt. Ja, auch für Swansea war Europa ein Erlebnis. Stolz erzählt Rick, er sei im Dezember 2013 oben ohne im St.Galler Nebel gestanden, um seine Swans anzufeuern. Seine Augen funkeln, in seinem Blick ist Sehnsucht. Swansea spielt mittlerweile nur noch in der zweithöchsten Liga.
Kurz später greift ein anderem Swansea-Fan, mit dem ich im Garten des Pubs ins Gespräch komme, zur Superlative. «You were the best visiting Supporters in the history of Swansea», sagt er, ein wortkarger Typ, der sich zuvor minutenlang mit seinem Freund hinter einem Pint angeschwiegen hatte.
Die elfte Ausgabe des SENF beschäftigt sich mit den Legenden des FC St.Gallen. Die kurze Stippvisite in Wales hat gezeigt: Auch wir Fans sind Legenden. Auch wir haben Geschichte geschrieben. Und wir – das SENF-Kollektiv – haben nach dem Spiel in Swansea angefangen, Geschichten zu schreiben. Die erste Ausgabe des St.Galler Fussballmagazins war dem Europacup gewidmet. Damals ahnten wir es, wussten es aber noch nicht: Auch ein Ort, den man nur einmal besucht hat, kann ein Lieu de Mémoire werden. Swansea ist so ein Ort. Auch, weil die Gastgeber uns nicht vergessen haben.