Leser E.M. und F.B. berichten vom brisanten Aufeinandertreffen des FC St.Pauli mit Dynamo Dresden in der 2. Bundesliga. Schon im Vorfeld war klar, dass es keine gewöhnliche Partie werden würde. Doch das Spiel wurde dann gar von einem medizinischen Notfall überschattet.
Wir sind schon früh in Deutschlands zweitgrösster Stadt unterwegs. Von Hamburg Altona geht es in Richtung St. Pauli. Bereits um 10:30 Uhr sieht man in Altona, dass heute zu einer für unsere Breitengrade ungewöhnlichen Zeit Fussball gespielt wird. Um 13 Uhr soll Anpfiff sein. Im Café Lieblings stimmen wir uns mit Astra, Lumumba und Rührei auf das Spiel ein.
An diesem Spieltag wird noch mehr ungewöhnlich sein. Ein deutschlandweiter Boykott ist angekündigt. Selbst das ältere Ehepaar, mit denen wir den Tisch teilen, weiss Bescheid. Grund für den Unmut der Fans: Der Spieltag in der 3. Liga soll weiter aufgeteilt werden. Ab der kommenden Saison dauert ein normaler Spieltag von Freitag bis Montag (Link). In den ersten 45 Minuten bleibt es ruhig. Nicht nur die Ultras tragen den Protest, sondern das ganze Stadion. Die sportlich bescheidene Leistung in den ersten 45 Minuten hilft dabei. Bei den wenigen Angriffen kommen zwar Emotionen hoch, diese werden aber durch vereinzelte Fans gleich unterbunden. Wir fragen uns, ob das zielführend ist. Eine Teilnahmslosigkeit am Spiel sollte unseres Erachtens nicht Teil des Protests sein.
So vergehen die ersten 45 Minuten nicht wie im Flug, sondern dauern ewig. Untermalt wird der Protest mit verschiedenen Spruchbändern: «Vereine, ihr habt es in der Hand» oder «Der Ball rollt nur am Wochenende», was uns irgendwie an die FC St.Gallen-Werbung erinnert. Die Anspielzeit wird mit Witz kritisiert: «PROst Samstag 20:30 Uhr! – Für mehr Zeit zum Bechern vorm Kick.»
Wir freuen uns auf Halbzeit Zwei, schliesslich sind viele andere Fussballbegeisterte voll des Lobes, wenn sie vom Millerntor sprechen. Es ist auch tatsächlich sehr fanfreundlich aufgebaut. Nur die Haupttribüne besteht ausschliesslich aus Sitzplätzen. Von den 29'546 Plätzen sind 16'940 Stehplätze. Dadurch, so wurde uns beispielsweise am Freitagabend in der Stadt erzählt, sei die Stimmung atemberaubend. Die zweiten 45 Minuten starten mit dem Lied «Antifa Hooligans» von Los Fastidios aus den Stadionlautsprechern. Von den Rängen kommt jetzt Lärm und nach gerade mal drei Minuten schiesst St. Paulis Jeremy Dudziak das 1:0. Überschwängliche Freude ist im Rund auszumachen und das EA Sports FIFA 98-Lied dröhnt durch die Boxen: Blur mit «Song 2».
Dann tritt der Fussball in den Hintergrund. Auf der Nordtribüne, gegenüber des St.Pauli-Fansektors, sehen wir plötzlich Sanitäter, Blachen werden entrollt, Ärzte eilen herbei. Ein St.Pauli-Fan kämpft während 20 Minuten ums Überleben. Zuerst stellen die Pauli-Fans auf der Südtribüne die Stimmung ein, kurze Zeit später auch die Dynamo-Fans. Nur das Schiedsrichtergespann findet, hier könne ohne weiteres noch Fussball gespielt werden. Plötzlich ertönen aus der Nordtribüne – also just von jener Tribüne, auf der ein Mensch um das Überleben kämpft – St. Pauli-Rufe. Das halbe Stadion pfeift die Nordtribüne zusammen.
Kurz darauf wird eine Schneise gezogen, die reanimierte Person wird herausgetragen. Was nun folgt ist an Abscheulichkeit nicht zu überbieten: Zwei Bierbecher fliegen in Richtung der Trage. Es folgen Tumulte im Dynamo-Block, wohl um die Bierbecherschmeisser rauszustellen. Wenigstens hier noch Menschlichkeit. Es kommt nun kaum noch Stimmung auf und kurz vor Schluss trifft Jannik Müller zum Ausgleich. Dem überragenden Henk Veerman misslingt in der Nachspielzeit, gerade als Dynamofans ein frauenverachtendes Spruchband zeigen, der Siegtreffer.
Ein seltsames Spiel. Aufgrund der ganzen Nebengeräusche müssen wir ein weiteres Mal nach Hamburg reisen, um die Stimmung am Millerntor an einem normalen Spieltag erleben zu können. Ohne Boykott und vor allem ohne Reanimation.
Aufgrund der Ereignisse lief Leser E.M. am 08 Dezember durch das Stadion mit dem Namen des südkoreanischen Spielers Ky-Bun Park und war glücklich, dass er gleich mehrere Reanimationsgeräte entdeckte. Auch wenn diese hoffentlich nie zum Einsatz kommen müssen.