Sehbehindert und Fussballfan: Warum eigentlich?

Der Widnauer Thomas Blank leidet gern mit dem FC St.Gallen, er besucht fast jedes Spiel im Stadion. Was ihn von anderen Fans unterscheidet: Er sieht nicht viel vom Match. Eine angeborene starke Sehbehinderung führt dazu, dass er ihn anders wahrnimmt als die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer.

Schon seit meiner Kindheit fasziniert mich der Fussball. Meine aktive Fussballerkarriere endete wegen meiner körperlichen Limitierung aber bereits bei den F-Junioren des FC Widnau. Seither besuche ich Fussballspiele rund um die Welt und bin stolz auf bisher 26 Länderpunkte, die ich mitunter in der Ukraine, in Südkorea und in Australien gesammelt habe.

Von den Spielen selbst sehe ich aber – wenn es gut kommt und es nicht in einem Leichtathletikstation stattfindet – nur rund die Hälfte. Der Grund dafür ist nicht der erhöhte Bierkonsum vor und während des Spiels… Oder zumindest nicht nur. Die volle Sicht auf das Spielfeld wird mir durch eine angeborene starke Sehbehinderung verunmöglicht. Auf einem Auge bin ich blind und auf dem anderen habe ich eine stark verminderte Sehfähigkeit.

Warum also genau Fussball, wenn ich nicht einmal das Spiel richtig mitverfolgen kann? Warum reise ich für ein Spiel durch ganz Europa, um dann hinter dem Tor doch nur bis knapp zur Mittellinie zu sehen? Ein Erklärungsversuch und ein Einblick in die Fussballwelt eines Sehbehinderten.

Die Haarpracht von SChmidt hilft

Es ist Samstagabend vor dem St.Galler Stadion. Die Sonne geht an diesem unerträglich heissen Sommertag endlich unter, die Vorfreude auf das erste Heimspiel der Saison gegen den Aufsteiger aus Winterthur ist richtig spürbar. Eifrig diskutieren die Grüppchen vor dem Bierstand über die Neuverpflichtungen und die verschiedenen Erwartungshaltungen. Ja, auch das Spiel von Ende Mai in Bern ist nochmal Thema.

Ich selbst bin hibbelig, endlich wieder Fussball. Doch im Gegensatz zu vielen anderen werde ich mir kein konkretes Bild über die Leistung der einzelnen Spieler machen können. Ich sehe schlicht nicht, wer am Ball ist. Spielernummer? Keine Chance! Ein Grüner oder ein Roter halt. Bei einzelnen kann ich es erahnen. Isaac Schmidt zum Beispiel, wegen seiner Haarpracht. Wenn jemand im Strafraum fällt, verdächtige ich automatisch unsere Nummer neun. Schon eher kann ich die taktische Ausrichtung erahnen, grün oder rot eben. Der fundierte Fussballfachverstand treibt mich also sicher nicht Woche für Woche ins Fussballstadion. Was denn?

Fankurven Hören ist wichtiger als die Spieler sehen

Anpfiff. Endlich geht es los. Endlich wieder Fangesänge, endlich wieder Choreo und endlich wieder Pyrotechnik. Die Choreo kann ich von meinem Sitzplatz im Sektor B aus bestens mitverfolgen, sie ist jeweils ein Match-Highlight. Die Stimmung, die ich aus beiden Kurven sehr gut wahrnehme, ist positiv geladen. Alle im Stadion – auch die Gäste – sind topmotiviert. Auch dem Auswärtssupport schenke ich immer grosse Beachtung. Dies wohl auch bedingt durch die Nähe zum Gästesektor. Und schlicht auch darum, weil für mich hören wichtiger ist als sehen.

Das Spiel findet grossmehrheitlich auf «mein» Tor statt, also das Tor vor dem Sektor B. Dies freut mich, da es die Grünen sind, die es bespielen. So kann ich die Angriffe meines FCSG auch effektiv sehen. In der Zwanzigsten ist es so weit, der FCSG trifft. Nach dem Jubel mit meinen Kollegen erwarte ich den durch den Speaker mit Unterstützung des Publikums skandierten Namen des Torschützen. Es ist Schubert, wie von mir vermutet (der Lange). Es folgen «Schubi, Schubi»-Rufe. Die Stimmung steigt, als er dann vor der Pause sogar zum 2:0 trifft.

Tor oder Penalty?

Es ist Pause. Die erste Halbzeit ist gelungen. Zwei Tore, zwei für den FCSG und sogar beide gesehen. Bedingt durch den Pausenstand und den Wochentag fliesst das kühle Bier – wenn es endlich da ist – recht gut. Es wartet die zweite Halbzeit und ich kann die Verteidigung beobachten, wie sie die Führung zu halten versucht.

Es ist eine bessere Ausgangslage als bei einem 0:0 oder sogar bei einem Rückstand. Dann muss ich jeweils ich auf ein Tor auf der anderen Feldseite hoffen. Dieses Tor könnte ich dann nicht sehen, sondern nur hören. Im Gegensatz zu «normal» sehenden Zuschauern erlebe ich ein Tor, das auf der anderen Platzseite fällt, durch den Jubelschrei oder durch Stille und Frust der Fans. Gerade beim zweiten brauche ich länger, um es zu erfassen, da es auch ein für den Gegner gepfiffener Penalty sein könnte. Etwas frustrierend sind Hammerspiele, die 3:2 gewonnen werden. Ein Tor habe ich aber nicht gesehen, da alle in der anderen Platzhälfte fielen. Verlieren wir es 2:3, ist eh alles egal.

Viel mehr als 90 Minuten

Neben dem Fussballfachverstand kann es also auch nicht das Mitverfolgen der Partie sein, das mich zum Fussball treibt. Was suche ich denn während dieser 90 Minuten? Ach ja, sie sind mittlerweile um. Nach einer heissen Schlussphase, wieder auf mein Tor, diesmal aber von den Roten bespielt, gewinnen wir 2:0. Befreiung, Befriedigung, Freude. Und damit sind wir bei der ersten Erklärung. Der Fussball ist die schönste Nebensache der Welt. Ich habe Dramen erlebt, Feste gefeiert und Nerven verloren. Die ganze Bandbreite der menschlichen Emotionen eben.

Und das macht süchtig. Kaum ist ein Sieg gefeiert, kaum eine Niederlage verdaut, steht der nächste Gegner schon bereit und das Spiel beginnt von Neuem. Dies ist zumindest bei Pflichtspielen des FCSG, des FC Bayern (ich bin dort auch Jahreskarteninhaber) und der Schweizer Nati so. Das Penaltyschiessen der Nati im letzten Sommer gegen Spanien, in St.Petersburg und auf mein Tor, trieb mich an den Rand des Wahnsinns. Gleiches galt, als Arjen Robben im Mai 2013 im Wembley auf mein Tor zulief und den Ball am Torwart vorbeischob. Der FC Bayern war einige lange Minuten später Champions League-Sieger. Und ich habe das Tor sogar gesehen! Schlussendlich ist es viel mehr als die 90 Minuten. Es ist eben dieser Wahnsinn. Es sind Erfolge, die man gemeinsam mit seinen engsten Freunden betrinkt, und Frustrationen, die man gemeinsam verarbeitet, um dann aufs Neue aufzustehen.

Die Suche nach Emotionen

Okay, ich bin vernarrt in einige Fussballmannschaften und ziehe daraus meine Portion Emotionalität. Aber weshalb belästige ich meine Frau bei jeder Reise mit einem Fussballspiel? Es ist eben genau diese Emotionalität. Nirgends ist der Mensch ehrlicher als auf einem Fussballplatz. Die Zurückhaltung der Japanerin fällt bei einem ausgelassenen Torjubel. Die britische Höflichkeit des pensionierten Sitznachbarn macht Pause, wenn der «f***ing Ref» zu Ungunsten der eigenen Mannschaft pfeift. Wenn der Linfield FC gegen die Crusaders in der nordirischen Liga antritt, ist das Geschehen auf dem Feld zweitrangig und das Niveau bescheiden.

Da ich dem Geschehen auf dem Feld ohnehin nur bedingt folgen kann, nehme ich Eindrücke auf den Rängen wohl mehr wahr als andere. Und so geht sie weiter. Die Suche nach neuen Emotionen am nächsten Samstag und die Suche nach neuen, ehrlichen Eindrücken anderer Kulturen bei der nächsten Reise.