Es VAR nervig

Seit der Saison 2019/20 ist der Video Assistant Referee (VAR) auch in der Super League im Einsatz. Seither hat er wiederholt eingegriffen, Torjubel erstickt oder ermöglicht. Auch in St.Gallen hat er Diskussionen ausgelöst. Eine Spurensuche, ob der VAR den Fussball in der Schweiz fairer macht und wie ihn mit Alain Bieri ein Schiedsrichter wahrnimmt, der vor und hinter der Kamera steht.

Ich versuche, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mit einer Hand greife ich nach einer Schulter, mit der anderen kralle ich mich an die blaue Sitzschale. Bier läuft mir den Nacken hinunter und mein Schwerpunkt liegt gefährlich weit über dem Geländer. Ich stehe im Gästeblock des Basler St.Jakob-Parks, soeben hat Boris Babić den FC St.Gallen in Führung geschossen – vermeintlich.

Die Szene hat sich im Februar 2020 zugetragen und noch immer kann ich mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Denn das Gefühl, nach einem Rückstand in Basel in Führung zu gehen und damit vorübergehend die Tabellenführung zu übernehmen, ist als St.Galler alles andere als alltäglich. In meinem Delirium realisiere ich erst spät, dass Babićs Treffer vom VAR überprüft und schliesslich vom Schiedsrichter auf dem Feld aberkannt wird. Der Jubel weicht der Frustration.

War das wirklich ein Foul?

Dass die Erinnerungen an dieses Spiel dennoch zu den schönsten der Saison gehören, liegt an Einwechselspieler André Ribeiro in der Nachspielzeit. Nach einem Pfostenschuss Axel Bakayokos prallt ihm der Ball von der Brust ab in Richtung Tor. Dass er nach der Abwehr Jonas Omlins auf der Linie erneut richtig steht, hat er einzig seinem verfrühten Torjubel zu verdanken. Ribeiro dreht sich instinktiv in Richtung St.Galler Fans ab, als ihm der Ball vor die Füsse springt. Diesmal hat er keine Mühe und schiebt ein – es steht 2:1 für St.Gallen. Wieder kennt die Freude im Gästeblock keine Grenzen mehr. Diesmal greift sich Schiedsrichter Fedayi San nicht ans Ohr und auch kein Pfiff ertönt.

Doch warum das Eingreifen des VAR und Schiedsrichters bei Babićs Tor? Ein Ballgewinn im Mittelfeld, schnelles Umschaltspiel, die perfekte Flanke Miro Muheims und Babićs Flugkopfball ins Tor. Abseits ist es keines, bin ich überzeugt. Als ich die Szene am nächsten Tag im Fernseher sehe, merke ich, dass San ein Foul an Taulant Xhaka ahndet. Ausgerechnet, denke ich, und schaue mir die Szene erneut an.

Vielleicht liegt es an der fehlenden Objektivität, aber in meinen Augen hätte man die Aktion, ein Zweikampf mit St.Gallens Jérémy Guillemenot, auch als regelkonform auslegen können. Durch den positiven Spielausgang aus St.Galler Sicht kommen keine allzu grossen Diskussionen auf; nicht auf der feuchtfröhlichen Heimfahrt, nicht in den Zeitungen und Newsportalen.

Die Wohl umstrittenste Entscheidung

Anders drei Wochen später, als der FC St.Gallen im Heimspiel gegen den späteren Meister YB um den Sieg gebracht wird. Diesmal fallen gar zwei Tore in der Nachspielzeit. Besonders bitter: Das letzte erzielen in der 99. Minute die Gäste nach doppeltem VAR-Eingriff. Der erste ist noch wenig umstritten. Die Nachspielzeit ist zwar bereits sehr weit fortgeschritten, als Muheim der Ball im Strafraum an den Arm springt, die Intervention des VAR aber nachvollziehbar.

Die zweite wird weitaus unterschiedlicher beurteilt. Lawrence Ati Zigi bewegt sich laut VAR beim darauffolgenden Penalty zu früh von der Linie weg. Seine mirakulöse Parade nützt nichts, Guillaume Hoarau darf nochmals antreten und trifft. Nach einem der besten Spiele in der jüngeren Geschichte der Super League greift sich der VAR die Hauptrolle: für YB als Glücksbringer, für St.Gallen als Stimmungskiller. Selten habe ich im Espenblock – nach einem Punktgewinn gegen den späteren Meister – derart bediente Gesichter gesehen.

Lange Zeit hadere ich mit dem Spielausgang und der Entscheidung des Schiedsrichters. Und ich frage mich: Verlieren die Schieds- und Linienrichter durch den VAR nicht an Glaubwürdigkeit und – um auf das Spitzenspiel gegen YB anzuspielen – werden zulasten der Regelkonformität in der Öffentlichkeit exponiert? Alain Bieri, der Schiedsrichter auf dem Platz, und Sandro Schärer, der VAR, müssen sich in den kommenden Wochen nämlich einiges anhören. Dass für sie die strikte Regelauslegung zulasten wochenlanger öffentlicher Kritik Priorität geniesst, zeigt: Das Schweizer Schiedsrichterwesen ist intakt.

Die Swiss Football League zieht nach den ersten Spielen mit dem VAR eine überaus positive Bilanz. Dem VAR widerfährt in Zeiten von Geisterspielen tatsächlich wenig Gegenwind. Bald wird er schlicht dazu gehören. Woran dies selbst kritische Fussballfans merken? Wenn sie nach einem Gegentor anfangen, heimlich darauf zu hoffen, dass sich der Schiedsrichter stirnrunzelnd ans Ohr greift und mit den Händen ein Rechteck in die Luft zeichnet.

Die Sicht des Direktbetroffenen

SENF: Alain Bieri, wie analysiert ein VAR die geschilderte Szene beim Auswärtsspiel in Basel?

Alain Bieri: Sieht jemand einen solchen Zweikampf in normaler Geschwindigkeit am Bildschirm, ist sie oder er sich meist nicht sicher, ob es Foul ist. Der Videoschiedsrichter sagt dann «possible foul» und markiert die Situation mit einem Knopfdruck. Fällt nun ein Tor, bevor die andere Mannschaft wieder in Ballbesitz kommt oder der Ball ins Aus geht, müssen solche Szenen zwingend nochmals angeschaut werden. Das ist in dieser Szene der Fall: St.Gallen erobert den Ball und schiesst danach ein Tor.

SENF: Es ist also nicht relevant, wie lange die fragliche Situation zurückliegt, solange der Ballbesitz nicht gewechselt hat und der Ball das Spielfeld nicht verlassen hat?

Bieri: Es ist immer schwierig, absolute Aussagen zu treffen. Wenn es wie hier ein Konter ohne grossen Unterbruch ist, ist der Fall klar. Es ist aber nicht ganz unabhängig davon, wie lange es dauert. Wenn der Angriff beispielsweise abgebrochen und der Ball wieder zurück in die eigene Platzhälfte gespielt würde, hätte das Tor keinen Zusammenhang mehr mit dem Ballverlust in der fraglichen Szene.

SENF: Wie geht es weiter, wenn der Videoschiri eine Szene als Foul taxiert?

Bieri: Ich sage dem Schiedsrichter auf dem Platz, er soll sich das selber anschauen. Ist er gleicher Meinung, nimmt er das Goal zurück und entscheidet auf Freistoss.

SENF: Eingreifen darf der Videoschiri nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen. Wenn der Schiedsrichter auf dem Feld selber nochmal schauen muss, heisst das nicht bereits, dass es eben nicht so offensichtlich war?

Bieri: Das Drehbuch sieht nicht vor, dass der Videoschiedsrichter alleine entscheidet. Das darf er nur bei faktischen Fragen. Also zum Beispiel, ob der Ball im Tor war, ein Foul innerhalb oder ausserhalb des Strafraums geschah oder ob eine Abseitssituation vorlag. Bei allem anderen darf der Videoschiedsrichter nicht entscheiden, sondern nur eine Empfehlung aussprechen, dass sich der Schiedsrichter die Szene nochmals anschauen soll.

SENF: Wie sehr sind denn solche Situationen Ermessensfragen?

Bieri: Es gibt sicher einen gewissen Ermessensspielraum. Wir Schiedsrichter versuchen, das gleiche Verständnis davon zu erhalten, was klar und offensichtlich ist, indem wir viel üben. Solche Situationen schauen wir oft an, besprechen sie als Musterbeispiele. Es ist aber selten eine Szene ge-nau gleich wie die andere.

SENF: Im Rückblick verblasst die Szene in Basel vor der wohl meistdiskutierten Szene der Saison, beim denkwürdigen 3:3 gegen YB Ende Februar. Zum Penalty, der schliesslich wiederholt wurde, hatte ein Handspiel geführt. Wie haben Sie diese Szene als Schiedsrichter auf dem Platz wahrgenommen?

Bieri: Ich sehe nur, dass der Ball vom Spieler zurückprallt. Wie genau, sehe ich nicht. Also sage ich dem Videoschiri, dass die Spieler Hands reklamieren, ich aber nichts gesehen habe. Dann geht das Spiel weiter. Sobald das Spiel unterbrochen ist, sagt er mir «delay the restart». Hätte ich ihn nicht gefragt, hätte er sich die Szene von sich aus angeschaut, wäre aber bis zum Spielunterbruch ruhig geblieben. Kommt der Videoschiri dann wie in diesem Fall zum Schluss, dass es Penalty ist, empfiehlt er mir einen sogenannten «onfield review» und ich schaue mir die Szene dann selber an.

SENF: Der Entscheid war relativ klar. Aber weil hier grundsätzlich so viel Unklarheit herrscht: Was gilt denn jetzt beim Handspiel?

Bieri: Es gibt verschiedene Kriterien. Das wichtigste ist aber, ob die Hand deutlich weg vom Körper ist. In dieser Szene steht sie weg vom Körper. Es kommen aber schon noch andere Kriterien hinzu. Zum Beispiel, aus welcher Distanz der Ball kommt, ob er vielleicht sogar noch abgelenkt worden ist, von einem anderen Spieler oder von dem Spieler, der dann das Handspiel begeht. Es spielt auch eine Rolle, ob ein Spieler das Risiko bewusst in Kauf nimmt, da er damit rechnen muss, dass der Ball zum Beispiel auf das Tor geschossen wird.

SENF: Wenn aber ein Tor fällt, wird ein Handspiel immer geahndet?

Bieri: Das gilt für die angreifende Mannschaft. Man will nicht, dass aus einem Handspiel ein Tor entsteht. Auch dann nicht, wenn es völlig unabsichtlich war. Geht der Ball an die Hand, gibts kein Tor. Das sind aber manchmal Szenen, die im Mittelfeld nicht als strafbares Handspiel taxiert würden.

SENF: Dann kam die Szene, die wochenlange Diskussionen verursachte. Wie haben Sie den Moment erlebt?

Bieri: Ich habe vorgängig dem Goalie noch gesagt, er solle unbedingt mit mindestens einem Fuss auf der Linie bleiben, bis der Strafstoss geschossen wurde. Sonst werde der Penalty wiederholt, wenn er den ersten Versuch hält.

SENF: So kam es dann ja auch.

Bieri: Für uns auf dem Spielfeld war nicht zu erkennen, ob er zu früh von der Linie weg ist oder nicht. Ich erzähle nichts Falsches, wenn ich sage, dass solche Elfmeter ohne Videoschiri früher nicht wiederholt worden wären. Stand der Goalie da nicht einen Meter vor der Linie, suchte niemand danach. Jetzt ist die Situation aber eine andere, jetzt es ist möglich, das mit technischer Hilfe aufzulösen. Der Videoschiri sagt mir, dass ich den Penalty wiederholen muss. Das ist nun eine solche faktische Entscheidung, an der ich gar nicht rütteln kann.

SENF: Ihre Entscheidung hat das Stadion in Aufruhr versetzt. Haben Sie das mitgekriegt?

Bieri: In diesem Moment ist man in einem Tunnel, nimmt das Umfeld nur beschränkt wahr. Natürlich wusste ich, dass der Entscheid nicht wahnsinnig populär war. Es hat mich auch richtig genervt. Es war bis dahin ein hochattraktiver Match, die Spielleitung meines Erachtens ganz gut gelungen. Aber in dem Moment weiss man, dass niemand über die vorherigen 93 Minuten sprechen wird. Das Ziel eines Schiedsrichters ist es ja, dass die Gespräche sich um das Spiel drehen, nicht um seine Entscheidungen.

SENF: Wie fühlt man sich dabei?

Bieri: Gar nicht gut. Wir wussten alle sofort, das ist ein Entscheid, der in der Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar ist. Bei der Analyse der Szene im Nachhinein ist uns aufgefallen, dass der welsche Assistent sogar ruft «non, non, non». Nicht, weil die Entscheidung falsch war, das war ja hier nicht die Diskussion. Sondern weil er wusste, dass am Schluss alle nur über diese Entscheidung sprechen würden.

SENF: Spielraum gibts für die Schiedsrichter hier keinen?

Bieri: Nein, so ist nun mal die Vorgabe. Ob ich sie gut finde oder nicht, ich muss sie umsetzen. Bei faktischen Entscheiden gehts auch nicht darum, ob es eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Feld war. Sobald das mit der Kamera aufgelöst werden kann, muss der Videoschiedsrichter intervenieren.

SENF: Ist eine Regel, die von blossem Auge nicht zu erkennen ist, nicht vielleicht einfach Unsinn?

Bieri: Das kann man sich sicher fragen. Ich finde die Diskussion auch sehr spannend. Auch zum Beispiel diejenige mit den kalibrierten Linien bei Offside-Fragen in England. Da fragt man sich als Fan und Zuschauer tatsächlich, ob das der Fussball ist, den man will, den man kennt und liebt. Solche Diskussionen soll man führen. Dennoch ist die Diskussion manchmal auch etwas schizophren. Den menschlichen Faktor, dass ein Schiri Fehler macht, will dann doch auch wieder niemand. Zwei Millimeter Abseitsentscheidungen stellt man gleichzeitig auch in Frage, aber ab wann ist es dann gut?

SENF: In der Saison gab es vorher schon ähnliche Situationen, in denen der Videoschiri aber nicht eingegriffen hat.

Bieri: Er hat in der Vorrunde tatsächlich zwei-, dreimal nicht eingegriffen. Dann hat aber sofort die FIFA interveniert, da es auch für uns ein Finden der korrekten Interventionsschwelle war. Es war dann natürlich unglücklich, dass die strikte Regelauslegung zum ersten Mal in einem solchen Moment gegriffen hat.

SENF: Die FIFA interessiert sich so für die Schweizer Liga?

Bieri: Ich weiss nicht, ob sie sich alle Spiele anschaut. Aber alle Szenen, die der Videoschiedsrichter zumindest überprüft, werden am Schluss zusammengeschnitten und dem IFAB, dem International Football Association Board, geschickt. Es dürfte das Bestreben des IFAB sein, dass der Videoschiedsrichter überall gleich gehandhabt wird. Das ist eine Art Qualitätskontrolle.

SENF: Wir befinden uns immer noch in der Einführungsphase. Die Liga meinte aber schon zu Beginn, dass der VAR den Fussball nachweislich gerechter macht, weil er Fehlentscheide in spielentscheidenden Szenen verhindern kann. Wird der Fussball tatsächlich gerechter?

Bieri: Ja, das würde ich unterschreiben. Letzte Saison wurden etwa 36 eindeutige Fehler korrigiert. Aus dieser Perspektive wurde der Fussball schon gerechter. Aber nur in dem Sinn, dass niemand durch einen offensichtlichen Fehler benachteiligt wird. Eine hundertprozentige Gerechtigkeit gibt es vermutlich nie.

SENF: Was kann der Videoschiri nicht leisten?

Bieri: Ich habe mich nie der Illusion hingegeben, dass wir nicht mehr diskutieren. Nur schon die Frage, was ein klarer und offensichtlicher Fehlentscheid ist, ist ja nicht eindeutig.

SENF: Wie erleben Sie den öffentlichen Diskurs darüber?

Bieri: Ich habe das Gefühl, er ist mehrheitlich sehr sachlich. Es ist oft eine fachliche Diskussion. Und die Diskussion dreht sich auch nicht mehr nur um den Schiedsrichter, weil ja zum Beispiel auch ein Eingreifen des VAR diskutiert werden kann.

SENF: Am meisten dürfte diskutiert werden, ob ein Fehler klar und offensichtlich war.

Bieri: Ja. Und hier müssen wir uns auch am meisten finden. Dass alle Schiedsrichter möglichst das gleiche Verständnis haben, was ein klarer und offensichtlicher Fehler ist. Wir beurteilen etwa alle zwei Wochen rund zehn Szenen, um dieses Verständnis zu entwickeln. Man kann da schon Kriterien definieren, aber wo ein Mensch eine Szene interpretiert, wird es zu unterschiedlichen Auffassungen und auch einmal zu einer falschen Einschätzung kommen. Man darf auch nicht ausser Acht lassen, dass der VAR unter Druck arbeiten muss. Der Check einer Szene soll ja nicht ewig dauern. Ausserdem wird dem VAR eine falsche Beurteilung einer Szene noch weniger vergeben als dem Schiedsrichter auf dem Platz.

SENF: So kommt es doch einfach zweimal zu einer subjektiven Auslegung.

Bieri: Es ist nicht der Fall, dass es zu zwei subjektiven Einschätzungen kommt. Der VAR entscheidet ja nichts. Er macht nur dem Schiri auf dem Platz einen Vorschlag.

SENF: Diese Unterstützung des VAR soll dem Schiri auf dem Platz Sicherheit vermitteln. Tut sie das?

Bieri: Ja, das tut sie. Wenn ich als Schiedsrichter eine Szene klar und offensichtlich falsch beurteile, habe ich einen «Airbag», der aufgeht – also der VAR, der mir hilft, dass ich diesen Fehler korrigieren kann. Früher hatte ich diese Chance nicht.

SENF: Wie ist die Ausbildung vor dem Start abgelaufen?

Bieri: Wir haben vor dem Start fast ein Jahr geübt. Da gabs technische Fragen: Wo muss ich drücken? Wie ist der Ablauf? Was muss ich dem Operator sagen, der kein Fussballspezialist ist, damit ich das richtige Bild zu sehen kriege? Da gings auch um das gleiche Verständnis unter den Schiedsrichtern bezüglich der klaren und offensichtlichen Fehler. Und auch auf dem Feld war eine Umgewöhnung für die Schiedsrichter gefragt. Jetzt kommentiere ich meine Entscheide, sage zum Beispiel bei einer Strafraumszene «leichtes Stossen, das reicht nicht». Dann weiss der Videoschiri, was ich beurteilt habe. Wenn der VAR sich dann diese Szene anschaut und feststellt, dass es zusätzlich unten bei den Füssen ein Foul gab, weiss er, dass ich das gar nicht gesehen habe und kann entsprechend intervenieren.

SENF: Aktuell könnten Sie fast über die Aussenmikrofone mit dem Videoschiri kommunizieren, weil es ohne Fans ruhig im Stadion ist. Wie speziell ist die Situation für die Schiedsrichter?

Bieri: Was ich sicher sagen kann: Die Phase mit 1’000 Zuschauern war die unangenehmste. In einem gut gefüllten Stadion hört man das einzelne Wort nicht, man hört den Lärmpegel. Bei 1’000 Leuten siehst du vielleicht sogar noch, wer etwas rein ruft. Das ist schwieriger zu ertragen, als wenn es einfach eine Wand ist. Das ist fast schon wieder wie früher in der 2. Liga.

SENF: Das braucht eine dicke Haut.

Bieri: Ich versuche, es immer so zu sehen, dass da jemand gegen mein Amt pfeift oder ruft. Nicht gegen mich als Person. Im Nachgang zum erwähnten Spiel St.Gallen gegen YB war es aber schon etwas vom Massivsten, das ich erlebt habe. Wochenlang bekam ich anonyme Anrufe, massive Bedrohungen und Beleidigungen. Das geht einem schon nahe. Vor allem in dieser Situation. Ich habe in meiner Karriere schon diverse Fehlentscheide gefällt, aber hier war alles korrekt und gemäss der Vorgaben. Wenn man da als Fan der Meinung ist, dass diese Regel doof ist, kann man diesen Ärger meiner Meinung nach nicht am Schiedsrichter auslassen, der nur seine Aufgabe erfüllt.


Dieser Text wurde aus Anlass des Rücktritts von Alain Bieri aus dem Archiv geholt und online gestellt. Erstmals erschien er im SENF #13 – Alles ist anders.