Zwischen Tränengas, Molotov-Cocktails und Coronavirus: Der Fussball in Hongkong

Bis vor kurzem protestierten noch Millionen von Menschen auf Hongkongs Strassen für mehr Demokratie. Jetzt sind die Strassen, Einkaufszentren und öffentlichen Anlagen leer. Der Coronavirus hat geschafft, was die Behörden monatelang versucht hatten: Die Proteste sind verstummt. Tobias Zuser, seit acht Jahren in Hongkong wohnhaft und Kenner der lokalen Fussballszene, berichtet von den andauernden Extremsituationen und deren Auswirkungen auf den lokalen Fussball.

Zuerst kamen die Proteste. Brennende Strassenbarrikaden, geschlossene U-Bahn-Stationen, und Millionen von Menschen auf den Strassen bestimmten monatelang Hongkongs Stadtbild. Und als wäre eine Krise noch nicht genug, kam im Januar die Coronavirus-Krise hinzu. Hongkong war einer der ersten Orte der Welt, wo das öffentliche Leben zum Stillstand kam – und wenige haben damals damit gerechnet, dass diese Massnahmen bald zum weltweiten Standard werden würden.

Vor dem Stillstand: Kontrolliertes Chaos

Während die Proteste für Aussenstehende aus dem Nichts gekommen zu sein scheinen, hat es in Hongkong schon seit Jahren gebrodelt. Die ehemals britische Kronkolonie, die 1997 an China zurückgegeben wurde, hat bis dahin die Warnsignale stets ignoriert, doch im letzten Juni ist der soziale «Schnellkochtopf» schliesslich explodiert. «Ein Land, zwei Systeme», das politische Modell, das Hongkong Sonderverwaltungsrechte unter chinesischer Souveränität erlaubt, konnte die ideologischen Widersprüche nicht mehr abfedern. Die versprochenen demokratischen Reformen blieben aus, während die Einmischung der Kommunistischen Partei Chinas immer weniger subtil von statten geht.

Die Hintergründe zu analysieren würde den Umfang dieses Textes sprengen, deswegen gibt es hier alles im Schnelldurchlauf: Am 15. Juni 2019 gingen fast zwei Millionen Menschen gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz auf die Strasse. Auch wenn dieses nicht für politische Dissidenten gelten sollte, gab es ein generelles Unbehagen, dass die chinesische Justiz dann andere Wege für eine legale Strafverfolgung finden könnte. Die Hongkonger Regierung zeigte sich allerdings von den Menschenmassen – die an diesem Tag etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten – wenig beeindruckt. Wenn Sturheit auf groben Widerstand stösst, ist eine Eskalation kaum zu vermeiden.

Ungefähr sieben Monate befand sich Hongkong darum in einem Zustand von kontrolliertem Chaos, mit einer ungesunden Dosis Polizeigewalt, Vandalismus, und Kompromissunfähigkeit. Die Proteste gingen weiter, fast an jedem Wochenende, aber der Alltag ebenso. Als Bürgerin oder Bürger findet man sich damit ab –umging man Konfliktzonen, war von der Krise auch kaum etwas zu sehen, abgesehen von vereinzelten Graffiti, fehlenden Strassengeländern und Pflastersteinen. 

Fussball und Politik, von der Kolonialherrschaft zur Volksrepublik

Wie fast überall sind Fussball und Politik auch in Hongkong Dinge, die sich nicht auseinanderdividieren lassen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Sport aus Grossbritannien importiert, doch in der durch Rassen- und Klassentrennung geprägten Gesellschaft gab es anfangs kein allzu grosses Interesse der lokalen Bevölkerung. Das änderte sich erst mit der Gründung von South China, dem ersten Athletikclub für Chinesen.

Es dauerte nicht lange, bis die lokalen Clubs die heimische Fussball-Liga dominierten und der Erfolg von South China ein Zeichen des kulturellen Widerstands gegen die britische Kolonialherrschaft wurde. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelte sich auch der Kalte Krieg im Hongkonger Fussball wider, als manche Clubs mit dem Kommunistischen China (der Volksrepublik) und andere mit dem Republikanischen China (Taiwan) sympathisierten. Spiele zwischen den Vereinen Happy Valley und Eastern wurden zum Beispiel gerne als Bürgerkriegs-Derby bezeichnet. 

Seit den 1950er-Jahren ist Hongkong zudem ein eigenständiges FIFA-Mitglied. Zunächst weigerten sich allerdings viele heimische Spieler, die britische Kolonie zu repräsentieren. Das änderte sich erst in den 1970er- und 80er-Jahren, als eine stärker ausgeprägte Identität von «Hongkong-Chinesen» in Erscheinung trat, was auch mit dem immer näher kommenden Ablaufdatum des britischen Hoheitsanspruches zu tun hatte. Damit war nämlich am 1. Juli 1997, nach 156 Jahren, Schluss. Hongkong wurde feierlich an China übergeben.

Im Mai 1985 sorgte die Hongkonger Auswahl zudem für die wohl grösste Fussballschmach Chinas, als sie die chinesische Nationalelf in Peking 2:1 besiegte. Gegen einen Fussballzwerg, der eigentlich gar kein Gegner, sondern ein Teil der Volksrepublik sein sollte, darf man einfach nicht verlieren, war Chinas Empfinden. Wegen dieser Niederlage konnte China letztendlich nicht an der Weltmeisterschaft teilnehmen und wütende chinesische Fans verwüsteten das Botschaftsviertel rund um das Stadion. Dass diese Wunde nicht verheilt ist, wurde genau 30 Jahre später deutlich, als sich 2015 die Teams abermals in der WM-Qualifikation gegenüberstanden. Und wieder war China nicht in der Lage, Hongkong zu besiegen: Die zwei torlosen Remis fühlten sich für die Volksrepublik abermals wie Niederlagen an. 

Die Spiele fanden damals kurz nach der Regenschirm-Bewegung statt, einer dreimonatigen Belagerung der Hongkonger Innenstadt durch vornehmlich junge Bürgerinnen und Bürger, darunter viele Studierende, die mehr direkte Demokratie einforderten. Auch hier schlug die Energie des öffentlichen Widerstands bald auf die Fussballspiele durch: Weil Hongkong seit der Übergabe de facto ein Teil Chinas ist, wird vor jedem Match auch die chinesische Nationalhymne gespielt, was etliche Fans dazu verleitete, die Symbolik umzudrehen. Statt mitzusingen wurde die Hymne ausgebuht, was sich seither noch oft wiederholt hat und dem Hongkonger Fussballbund schon einige Strafen eingebracht hat. 

Fussball als Gradmesser für Normalität

In einem solchen Klima ist vielleicht nicht wirklich an Fussball zu denken, aber gerade hier zeigt sich die soziale und kulturelle Bedeutung des Sports. Immer wenn die Proteste stark eskalierten, waren auch die heimischen Ligen betroffen. Die Hong Kong Premier League mit zehn professionellen Clubs ist dabei die höchste Spielklasse. Man spielt quer über die Stadt verteilt, aber weil es eben doch nur eine einzige Metropole ist, fallen dann auch gleich mal alle Spiele der Runde aus, wenn Demonstrierende das U-Bahn-System lahmlegen. Das bedeutet: Fussball ist mittlerweile der beste Gradmesser für Normalität – und man erkennt daran schnell, wenn die Dinge dabei sind, aus dem Ruder zu laufen. 

Die Zuschauerzahlen – wir sprechen hier im Durchschnitt von 1’000 Zuschauerinnen und Zuschauern pro Spiel – gingen diese Saison etwas zurück, vor allem aufgrund von Einschränkungen des Öffentlichen Verkehrs. Obwohl sich deswegen die An- und Abreise zu einem Spiel teilweise schwierig gestaltete und besser geplant werden musste, liess sich jedoch in der Regel der Grossteil der Fans auch davon nicht abhalten. Die Proteste selbst waren allerdings zuweilen so unberechenbar, dass es vorkommen konnte, dass 30 Minuten nach dem Abpfiff Tränengasschwaden durch dieselbe Nachbarschaft zogen, in der gerade ein Fussballspiel zu Ende gegangen war. 

Trotz der Chaostage gab es für die FIFA allerdings keinen Grund, Hongkongs Heimspiele für die laufende Weltmeisterschaftsqualifikation abzusagen. Da ist man wohl ernsthaftere Krisenherde gewohnt, auch in Asien. Die Spiele gegen Iran, Bahrain und Kambodscha gingen allesamt wie geplant über die Bühne, zur Freude vieler Fans. Im ersten Heimspiel gegen den Iran waren rund 14’000 Zuschauerinnen und Zuschauer zugegen. Bei Normalzustand wäre es wohl nur die Hälfte gewesen. Die gängigen Protestrufe fügten sich zwischen die Fangesänge ein und kurz vor Anpfiff wurde «Glory to Hong Kong» auf den Rängen angestimmt, die inoffizielle Hymne der Protestbewegung.

Am Ende des Tages verlor Hongkong zwar 0:2, aber die Fans waren trotzdem zufrieden. Für 90 Minuten durfte man Flagge zeigen und seine politische Identität ausleben, keine Polizei, kein Tränengas. Und eine knappe Niederlage gegen die beste Mannschaft Asiens, die vor kurzem Kambodscha 14:0 aus dem Stadion geschossen hatte, ist ein respektables Resultat. In diesem Moment gab der Fussball durch das Gefühl, vereint zu sein in Hongkongs fussballerischem Leiden, wieder ein bisschen Normalität zurück.

Und dann waren die Strassen leer

Als wäre aber diese sozial angespannte Lage noch nicht Test genug, kam mit dem Coronavirus-Ausbruch im Januar nochmals eine neue, zusätzliche Dimension von Existenzkrise hinzu. Weil sich viele Einwohnerinnen und Einwohner an die SARS-Krise im Jahr 2003 erinnert fühlen, war das für Hong Kong auch eine Auseinandersetzung mit einem tiefsitzenden Trauma. Aufgrund der extrem hohen Bevölkerungsdichte mit bis zu 130’000 Einwohnerinnen und Einwohnern pro Quadratkilometer in einigen Bezirken ist die Region um einiges anfälliger für Massen-Epidemien als andere Orte.

Anstatt also auf Massnahmen der Behörden zu warten, nahmen viele Bürgerinnen und Bürger die Sache selbst in die Hand – und setzten von vornherein auf «social distancing». Bei neuerlichen Protesten und Streiks, dieses Mal mit Forderungen nach Massnahmen, wurde weiterer Druck ausgeübt, vor allem um die Schliessung der Grenzübergänge zu beschleunigen. Seit Ende Januar sind nun Schulen, Universtäten, Büchereien, Museen, Theater, Sportanlagen und Behörden geschlossen und alle Einreisenden müssen sich einer vierzehntägigen Selbst-Quarantäne unterziehen. Und während am Anfang diese Massnahmen wohl noch als extrem gegolten hatten und Wenige damit gerechnet hätten, dass sich ein ähnliches Bild bald auf der ganzen Welt zeigen würde, gilt Hongkong mittlerweile als ein Modell für viele westliche Länder, wie man so eine Epidemie vielleicht in den Griff bekommen könnte.

Für den Fussball ist damit das «worst case»-Szenario eingetroffen. Alle Spiele wurden abgesagt. Einige Cup-Wettbewerbe wurden noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf dem Trainingsplatz des Fussballbundes ausgetragen, aber nun herrscht wieder Pause. Alle Aktivitäten, die Menschenmengen anziehen würden, finden nicht mehr statt. Wirtschaftliche Konsequenzen für die Clubs sind unumgänglich, aber im Moment ist es noch schwierig abzuschätzen, welches Ausmass diese annehmen werden. Ebenso ist nicht absehbar, wann oder ob sich die Situation bald ändern wird.

Masken gegen den Überwachungsstaat

Aus diesem Grund heisst es nun vor allem eines: Warten. Warten, bis die Epidemie abgeklungen ist. Warten, bis die Stadionpforten wieder öffnen. Und warten, bis wieder ein gewisser Grad an Normalität einkehrt. Dann kann auch der Fussball – wie überall auf der Welt – mit der Rehabilitation beginnen.

Und wenn sich nun an einem Wochenende wieder Menschenmassen zu Protesten organisieren würden, dann wäre das mittlerweile wohl ein gutes Zeichen. Die Masken trägt man dann nicht mehr wegen der Angst sich anzustecken, sondern wieder um dem Überwachungsstaat das Leben etwas schwerer zu machen.


Tobias Zuser lebt seit 2012 in Hongkong und ist dort Universitätslektor in Kultur- und Sozialwissenschaften. Er betreibt eine Website über lokalen Fussball – www.offside.hk – und zusammen mit James Legge den «Hong Kong Football Podcast», den man auf den gängigen Kanälen verfolgen kann.