Plötzlich kennt dich die ganze Welt

Das Militär muss Särge in Lastwagen aus Bergamo wegtransportieren. Die Bilder davon gingen um die Welt. Fussball spielte eine Rolle bei der Ausbreitung des Virus, aber auch bei der Bewältigung der Krise.

«Jeden Tag warte ich auf die neuen Daten, als würde unser nächster Champions-League-Gegner ausgelost», schrieb mein Freund Davide auf Facebook. Seine Heimatprovinz Bergamo hatte sich zum Epizentrum der Coronakrise entwickelt. «Die Leute sterben hier wie die Fliegen», stand in der lokalen Zeitung. Die Champions League ist in den Hintergrund gerückt. Obwohl der bergamaskische Fussballclub Atalanta, von dem ich seit 25 Jahren Fan bin, erstmals dabei ist und als Debütant den Viertelfinal erreicht hat.

Davide ist 47-jährig. Beruflich hilft er Firmen, eine bessere Webpräsenz oder eigene Apps zu entwickeln. Zurzeit tut er dies von Zuhause aus. Doch er hat kaum Arbeit. Darum hat er Zeit, täglich eine Grafik über die Coronafälle in der Provinz Bergamo zu erstellen. Die blaue Linie über der Datumsachse steht für die Anzahl positive Fälle, die gestrichelte rote Linie für die neuen Fälle jeden Tages.

Am 5. April hat die Provinz Bergamo mit 103 neuen positiven Tests den tiefsten Zuwachs seit einem Monat verzeichnet. Am 6. April kommen nur 53 dazu.

Über 2060 Menschen  sind an Covid-19 gestorben

Die rot gestrichelte Linie auf Davides Grafik sinkt. Und doch ist an eine Entspannung nicht zu denken. Die Spitäler sind immer noch überlastet, das Pflegepersonal überarbeitet.

Bis am 1. April sind in der Provinz 2060 Menschen an Covid-19 gestorben. Das ist die von der Regierung bestätigte Zahl. Viele weitere Todesfälle sind aber ungeklärt, die Gesamtzahl ist um den Faktor vier höher als letztes Jahr. In Bergamo sind allein im März dieses Jahres 602 Menschen gestorben, im März 2019 waren es 125. In Nembro ist das Verhältnis 135 zu 14, in Alzano 101 zu 9. Letztere zwei Gemeinden sind vom Virus besonders betroffen. Dort begann das Unheil seinen Lauf zu nehmen.

Den ersten positiven Fall in der Provinz Bergamo gab es am 21. Februar. Am 22. Februar waren es fünf Fälle, einen Tag später elf, dann 24. Jeden Tag stieg die Zahl. Am 21. März bekamen 715 Personen aus der Provinz einen positiven Corona-Testbescheid. Bald wird die Gesamtzahl auf über 10’000 steigen, 9868 sind es per 6. April. Das sind Zahlen, die persönliche Prioritäten verschieben. Zahlen, die selbst das fröhlichste Gemüt bedrücken.

«Wir haben keine Lust, auf dem Balkon zu feiern»

Viele Italiener werden älter, bleiben im Kopf aber Kinder. Sie sind lebensfroh, besonders gern singen sie. Als ich 2007 mit drei Freunden an ein Auswärtsspiel nach Ascoli Piceno fuhr, sang einer die ganze Fahrt lang das Lied vom TV-Werbespot für Hamburger von Casa Modena. «Mamma, mamma, comprami i teneroni, quelli di Casa Modena sono i più buoni.» Immer und immer wieder.

In der Coronazeit haben die Italiener eine neue Möglichkeit zum Gesang gefunden. Sie traten auf die Balkone, um sich mit Liedern Mut zuzusprechen. Menschen hatten Tränen in den Augen, es war die Rede von einer neuen Solidarität. Bis es degenerierte. Bis Hobby-Entertainer Soundanlagen auf die Balkons schleppten und den Zweck der Sache verwässerten.

In den am stärksten betroffenen Landesteilen waren sie von solchen Hanswurstiaden nicht begeistert. «Wir haben keine Lust, auf dem Balkon zu feiern», sagte meine Bekannte Carmen, eine Frau, die hobbymässig Kleintiere züchtet und sehr gern feiert.

Auch meine Freunde Lucio und Roby lachen gern. Lucio lebt in Lallio, Roby in Seriate, zwei Gemeinden im Speckgürtel der Provinzhauptstadt. Lallio und Seriate haben, wie jeder italienische Ort, einen lebendigen historischen Kern, in dem sich die Alten auf der Piazza austauschen und die Jungen in den Bars. Vor Lucios und Robys Fenstern ist es ruhig geworden. «Das einzige, was ich von der Strasse höre, sind die Sirenen der Ambulanzen», sagt Roby. «Ich lebe in einem Geisterdorf», sagt Lucio.

Das als «Partita Zero» verschriene Fussballspiel

Mit Lucio verfolgte ich am 19. Februar das Hinspiel des Champions League-Achtelfinals Atalanta gegen Valencia, das wie alle Champions League-Spiele Atalantas in Mailand ausgetragen werden musste. Nach ein paar Tagen in den Pyrenäen erfolgte meine Anreise per Flugzeug. In Malpensa gab es keine Kontrollen, in der Stadt keine Unsicherheit. Gemütlich nippte ich vor dem Spiel über Mailands Dächern bei frühlingshaften Temperaturen in einer Rooftop-Bar an einem 18-Euro-Cocktail. Alles stimmte. Und es kam noch viel besser.

Ich umarmte Lucio, als Hans Hateboer in der 16. Minute das 1:0 schoss. Und wiederholte das kurz vor der Pause, als Josip Ilicic auf 2:0 erhöhte. Remo Freuler gelang das 3:0, Hans Hateboer das 4:0, am Ende stand es 4:1. Atalanta, ein kleiner Verein, der bis vor zehn Jahren zwischen Serie A und Serie B gependelt hatte, stand mit anderthalb Beinen im Viertelfinal der Königsklasse. Davon hat kein Fan nach drei Pleiten in den ersten drei Champions-League-Spielen geträumt.

Wir schüttelten die Köpfe, herzten uns, sangen, jauchzten. Dinge, die Fussballfans halt tun, wenn ihr Club gerade den sportlichen Höhepunkt seiner Geschichte erreicht hat.

Zwei Tage danach meldete Bergamo aus dem Spital Alzanos den ersten Corona-Fall. Zwei Wochen später war die Provinz das Epizentrum der Krise. Die Vermutung, das von 45’000 Zuschauern besuchte Spiel habe darauf Einfluss, lag nahe.

Francesco Le Foche, Immunologe am Römer Polyklinikum Umberto I, gab dem Spiel später den Namen «Partita Zero», «Spiel Null». Für ihn war es eine «biologische Bombe», der Ausgangspunkt der Coronakrise in Bergamo und der Lombardei. Diese Einschätzung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Auch Zeitungen im deutschsprachigen Raum griffen sie auf.

Plötzlich kennt dich die ganze Welt. Es ist noch nicht lange her, da musste ich allen erklären, wer Atalanta ist.

In zwei Gemeinden spitzt sich die Lage dramatisch zu

«Quarantäne, Tag 28. Peperonata aus der Bratpfanne», schreibt Guido auf Facebook. Ich lernte ihn nach einem Auswärtsspiel bei Sampdoria kennen. Er ist ein knorriger, aber fröhlicher Typ, der seit Jahren an jedes Spiel fährt. Guido wohnt in Nembro, einer der zwei Gemeinden, die am Ursprung der Krise in der Provinz Bergamo standen.

Angefangen hat sie im Spital von Alzano Lombardo, neben Nembro im unteren Seriotal gelegen. Unglückliche Umstände – besonders hiess es, das Spital sei nicht auf Corona-Patienten vorbereitet gewesen – begünstigten die Ausbreitung des Virus. Die Lage spitzte sich so zu, dass Alzanos Stadtpräsident Camillo Bertocchi und sein Amtskollege Claudio Cancelli aus Nembro von der Regierung verlangten, über die Gemeinden sei sofort den Status der «Roten Zone» zu verhängen. Codogno, eine Kleinstadt in der Provinz Piacenza und erster Corona-Hotspot Italiens, bekam die Krise als «Zona Rossa» rasch in den Griff. Heute gibt es dort keinen Fall mehr.

Alzano und Nembro hatten kein Glück. Bergamo gehört zu Italiens reichsten Provinzen. In Statistiken taucht sie weit vorn auf, egal ob bezüglich Lohn, Bruttoinlandprodukt oder Lebensqualität. Die Bergamasken gelten als arbeitsames Volk, das wirtschaftlichen Erfolg mit eigenen Händen erschafft.

Der Unwillen, zwei Gemeinden abzuschotten

Doch Erfolg erzeugt Abhängigkeit. Die Menschen sind vom Lohn abhängig, der Lohn vom Erfolg des Arbeitgebers, dieser von der Arbeitskraft der Menschen. Arbeitet keiner, nimmt das Unternehmen kein Geld ein. Nimmt das Unternehmen kein Geld ein, bekommen die Arbeitnehmer keinen Lohn. Oder sie verlieren ihre Stelle.

Für die lombardische Sektion der Confindustria, Italiens grösster Arbeitgeberorganisation unter der Leitung von Marco Bonometti, stand der wirtschaftliche Erfolg über der Gesundheit. «Bei Anrufen ging es Arbeitgebern hauptsächlich darum, ein Schlupfloch zu finden, um weiter produzieren zu können», sagte Alzanos Stadtpräsident Camillo Bertocchi gegenüber der TV-Station Rai Tre. Die Confindustria habe auf ihn Druck ausgeübt. Und auf die lombardische Regierung unter Präsident Attilio Fontana (Lega Nord), die bei solchen Anliegen das letzte Wort hat. Sie beschloss, Alzano und Nembro nicht zu Roten Zonen zu deklarieren.

Confindustria rief auf Social Media den Hashtag #bergamoisrunning (in Bergamo läuft’s weiter) ins Leben. Camillo Bertocchi erhielt derweil Hunderte Anrufe von besorgten Familien und Arbeitnehmern. Bergamos  Fabriken blieben offen – und um die Gefahrlosigkeit zu unterstreichen, liess die Regierung die Atalanta-Fans am 1. März ans Auswärtsspiel ins apulische Lecce reisen, während in der Nähe Geisterspiele stattfanden. Atalanta gewann 7:2.

Ein Geisterspiel, keine Euphorie und das Militär

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Italien schaffte es nicht, das Virus einzudämmen. So beschloss die Regierung auf den 8. März den Lockdown, der die meisten Fabriken betraf. Auch waren fortan Reisen ins Ausland verboten, ausser zur Arbeit.

Bis da hatten sich die Atalanta-Fans Hoffnungen gemacht, das Rückspiel des Achtelfinals in Valencia besuchen zu dürfen. Ich gehörte dazu, weil die Lage in der Schweiz noch nicht so eskaliert war wie in Italien. Wenige Tage vor dem Spiel folgte die Ankündigung, es finde ohne Zuschauer statt. Atalanta gewann dank vier Toren Josip Ilicics 4:3, stand im Viertelfinal, war plötzlich eines der acht besten Fussballteams Europas. «Bergamo, das ist für dich», stand auf dem T-Shirt, das die Spieler nach dem Sieg in die Kameras hielten. Bergamo jubelte. Das passendste Bild veröffentlichte medizinisches Personal des Spitals Papa Giovanni XXIII in Bergamo, das im Pausenraum einen Schal in die Höhe hielt.

«Freud und Leid liegen nah beieinander», sagt ein Sprichwort. Es gibt kein besseres Symbolbild dafür als das aus Bergamos Spital. Die Freude war rasch vorbei. Liga und Uefa setzten die Fussballsaison aus, weil ihre Bedeutung angesichts der Viruskrise nichtig geworden war.

In der Nacht zwischen dem 18. und dem 19. März transportierte das italienische Militär mit einem Konvoi Särge aus Bergamo heraus, um sie zur Kremation in andere Städte zu liefern. Die Stadt hatte keinen Platz mehr für ihre Toten. Die Bilder umrundeten die Welt, sie zerrissen Herzen.

Daniele Belotti, Lega-Abgeordneter im Parlament, weinte, als er eine Woche danach in Rom war. «Wir wissen nicht mehr, wohin wir die Toten bringen sollen. Wir wissen nicht mehr, wo wir die Kranken pflegen können. Uns sterben die Grosseltern weg», sagte er.

Da sitzen die bösen Jungs, und sie singen Lieder

Bergamos Elend erreichte nach den Bildern der Militärtransporte die Welt. Eine solche Situation hielt die westliche Welt für unmöglich, obwohl sie immer wieder Nachrichten über Infektionskrankheiten las. Sie betrafen sie jedoch nie so wie jetzt. Kommt eine Bedrohung nahe, wird sie real.

Daniele kenne ich schon lange. Er ist einer der Jungen, die Atalantas Kurve in eine Zukunft lenken sollen, die ihrer Reputation gerecht wird. Das ist schwierig, messen sich die Ultras in Italien doch gern auf der Strasse, nicht nur im Stadion. Und Atalanta hat einen Ruf.

Am 24. März postete Daniele ein Foto von sich und seinen Freunden. Sie tragen eine Maske, halten Malerroller und Überbrückungskabel nach oben. Sie vermissen das Stadion, würden jetzt lieber um die Häuser ziehen. Doch die Aufgabe ist jetzt eine andere: Sie bauen ein Feldspital.

Weil die Bürokratie mit dessen Aufbau zu lange wartete, nahmen sich die Gebirgsjäger Alpini der Sache an. Sie fragten die Ultras um Hilfe – innert einer Stunde waren alle Arbeiten vergeben. Es meldeten sich noch mehr Helfer, doch auch beim Spitalbau galt es, Abstand zu halten. Dafür steht das Bild, wie die bösen Jungs nach der Arbeit weit voneinander weg sitzen, aber gemeinsam singen.

Keine unerwartete Aktion der Atalanta-Ultras. Auch wenn die Berliner taz danach schrieb, die Ultras von Atalanta seien «bekannt für rassistische Beleidigungen. In der Coronakrise zeigen sie nun ungewohnte Züge». Sie führten, um ihre Titelunterschrift zu rechtfertigen, ein Beispiel an, das nicht nur nie aufgeklärt wurde, sondern auch weit weg von der Kurve geschah. Das ist diffamierend. Die Ultras sind nicht für rassistische Beleidigungen bekannt, sondern vielmehr für viele Einsätze in der humanitären Hilfe.

Professor Giordano, Innsbruck und Clara

Mein früherer Professor Christian Giordano sagte, die Italiener seien für ihre Solidarität bekannt. Wer in Not sei, bekomme Hilfe durch die Gemeinschaft. Dies sei durch ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung begründet. Die meisten Italiener spenden, auch wenn sie selber nicht zu viel haben. Und sie brauchen einen Sündenbock dafür, wenn etwas nicht klappt. Er heisst auch diesmal Staat.

Solidarität erreicht Bergamo aber nicht nur aus dem Inland. Die befreundete Fankurve Tivoli Nord Innsbruck rief eine Spendenaktion ins Leben. Der Verkauf der Solidaritätsschals warf über 56’000 Euro ab, die ein Spital in Seriate bekam.

Am 2. April kam Clara auf die Welt, Tochter von Martina und Claudio, die ich seit vielen Jahren kenne. Ihre Hochzeit in Albino und Stezzano mit viel Essen, Wein, Tanz und Pyro hat viel Spass gemacht. «Es ist seltsam, das ganze Leben stellt sich auf den Kopf. Willkommen Clara, willkommen neues Leben», schrieb Martina.

Wie wird sich Clara fühlen, wenn ihre Eltern ihr zum 18. Geburtstag eine Ausgabe der Zeitung vom 2. April 2020 schenken, in der von Krankheit und Tod die Rede ist? Es werden keine schöne Erinnerungen, besonders für die Eltern. Der Gedanke, die Geburt könne ein Symbol sein dafür, dass es in Bergamo wieder aufwärts geht, ist natürlich dämlich. Die täglich besser werdenden Zahlen sind in diesem Zusammenhang ein Zufall.

Dennoch gibt es niemand, der sie nicht gern zur Kenntnis nimmt. Auch nicht Davide, dessen rot gestrichelte Linie nach unten zeigt. Er mahnt: «Ein kleiner Seufzer der Erleichterung liegt drin, aber wir müssen weiter wachsam bleiben.»