Neymar nebenan

Aus Rapid Wien gab es keine Vorschusslorbeeren für den neuen Stürmer des FC St.Gallen. Das Zwölf hat sich vor rund zwei Jahren schon dem Spieler gewidmet, der «zu den grössten Talenten Europas» zähle. Wir dürfen den Artikel von Silvan Kämpfen aus der Ausgabe 59 verdankenswerterweise hier veröffentlichen.


Hans Gamper, Ivan Rakitic, Jérémy Guillemenot. Als dritter Schweizer überhaupt darf ein junger Genfer das Trikot des grossen FC  ­Barcelona überstreifen. Der U19-Natispieler träumt vom Einlaufen im Camp Nou.

Man möchte meinen, es stelle kein Problem dar, mit einem 19-jährigen Fussballer über seine Karriere zu sprechen. Gerade wenn dessen einzige Erfahrungen im Profibereich drei Teileinsätze in der Challenge League waren. Man täuscht sich da allerdings, wenn dieser junge Mann zu den grössten Talenten Europas zählt und in der Jugendmannschaft des FC Barcelona spielt. «Keine Interviews mit Spielern, die nicht zum A-Kader gehören!», stellen die Katalanen unmissverständlich klar.

Selbstverständlich lässt sich ZWÖLF davon nicht entmutigen und macht über Umwege den Berater des wohlbehüteten Jérémy Guillemenot aus. Gewiss könne er Auskunft geben, so jener Berater, allerdings nur mit Einwilligung der Mutter des Spielers. Spätestens bei dieser Aufgabe wird klar, warum der FC Barcelona seine Küken derart schützt. «Sehen Sie, da fängt es schon an», unterbricht Jérémys Mutter Dina die telefonische Anfrage. «Dieser Mann ist nicht sein Berater.» Mit solchen und ähnlichen Problemen muss sich ihre Familie schon seit geraumer Zeit herumschlagen.

Zwei Tore gegen Villareal

Insbesondere seit dem 30. September 2015. An diesem Tag spielt der Schweizer Juniorenmeister Servette nämlich in der Qualifikation für die UEFA Youth League auswärts gegen Villarreal. Jérémy Guillemenot läuft zu Hochform auf und markiert zwei Tore zum Sieg über den haushohen Favoriten. Dieser Auftritt verändert alles.

«Danach erhielten wir unzählige Anrufe, unter anderem von spanischen Vereinen. Wir konnten aber nicht allen Tür und Tor öffnen und haben uns daher gesagt, es müsste dann wirklich gleich ein grosser Klub kommen, damit wir uns näher damit befassen.»

Zur grossen Überraschung der Guillemenots machte kurz darauf tatsächlich der FC Barcelona Jérémy den Hof. Mit den Verantwortlichen habe es vom Gefühl her sofort gestimmt, sagt Mutter Dina. Im Januar 2016 darf ihr Sohn eine Woche mit Barcelonas U19 mittrainieren und überzeugt. In einem Probespiel trifft er gleich dreifach. So wird Guillemenot letzten Sommer als dritter Schweizer – nach Klubgründer Hans Gamper und Ivan Rakitic – beim FC Barcelona willkommen geheissen.

Noch ist Jérémy Guillemenot aber weit davon entfernt, zusammen mit dem Mittelfeldmann aus Möhlin aufzulaufen. Er ist zwar im Sturmzentrum gesetzt, aber eben erst bei der U19. Dort hoffen 26 Talente aus aller Welt auf Einsatzzeit und den Durchbruch. Auch in der UEFA Youth League, dem wichtigsten Wettbewerb auf dieser Stufe, ist Guillemenot Fixstarter. Das ist erstaunlich, denn der 1,82-m-Mann ist ein klassischer Stossstürmer. Einer, der Räume braucht, die Tiefe sucht, sehr antrittsschnell und kopfballstark ist. Zum auf Ballbesitz und langsamen Aufbau ausgelegten Barcelona-Spiel passt dies nur bedingt.

Fantastischer Torriecher

Dass sich seine Mannschaft mit ihm nun anders organisiert, ist angesichts seiner Qualitäten für U19-Natitrainer Gérard Castella keine Überraschung:

«Er ist sehr explosiv, hat einen fantastischen Torriecher und ist auch mental sehr stark. Zudem sorgt er im Strafraum stets für Unruhe, provoziert Fehler und agiert sehr schlau. Er holt so viele Freistösse und Elfmeter heraus, wobei das auf Profistufe dann schwieriger wird, weil die Schiedsrichter die Tricks besser kennen.»

In Barcelona will er nun vor allem an seiner Technik feilen. Trainer der dortigen U19 ist übrigens ein alter Bekannter: Gabri, der langjährige Barcelona-­Spieler, der seine Karriere bei Sion und Lausanne ausklingen liess (siehe Zwölf #43).

Fussbruch beendet Hockey-Laufbahn

Aufgewachsen ist Jérémy in Genf als Kind einer portugiesischen Mutter und eines französischen Vaters, der es als Fussballer immerhin bis in die 4. Division geschafft hat. Schon im Alter von 4 Jahren nötigt der kleine Jérémy seine Eltern, ihn zum Fussballtraining zu bringen. Doch Servette empfindet ihn noch als zu jung. Seine Enttäuschung ist riesig, er beginnt stattdessen mit Eishockey. Sein Eifer, Höchstleistungen zu bringen, zeigt sich schon da, als er acht Treppenstufen auf einmal überspringen will – und sich dabei den Fuss bricht. Bis zur Genesung hat er sich auf die Teamkollegen bereits einen so grossen Rückstand eingehandelt, dass er die Schlittschuhe an den Nagel hängt und doch noch zum Fussball wechselt.

Er beginnt schliesslich bei Urania, wechselt dann bald zu Servette. Schnell findet sein Name Eingang in die Notizbücher der Scouts. Mutter Dina erinnert sich:

«Bei den ersten Anfragen gerieten wir in Panik.»

Jérémy war gerade mal 12, da riefen ständig Vertreter französischer Klubs an. Die Eltern mussten schnell lernen, wie sie mit dem wachsenden Interesse umgehen sollen. «Es gibt die Klubs, dann die Berater, dann die Vermittler. Es ist eine ganz lange Kette. Und irgendwann kommen Leute, die überhaupt nichts mehr mit Fussball zu tun haben», resümiert Dina. Früher hätten Spielervermittler eine Lizenz gebraucht, heute könne sich «jeder Barkeeper» so nennen. «Darum haben wir versucht, Jérémy zu schützen. Man sieht ja, was mit anderen Jungen passiert ist, das tut mir weh. Ich finde, es brauchte eine neutrale Anlaufstelle, die den Eltern von umworbenen Jungen Auskunft geben kann. Wir haben wirklich alles erlebt. Manche Berater wollen gar die Eltern kaufen!», so Dina.

Trotzdem will sie nicht gleich die ganze Branche verteufeln. Sie hätten in dieser Zeit auch mit sehr guten Leuten Kontakt gehabt, viel Hilfe erhalten, von Servette und auch vom Verband, der ihnen wertvolle Ratschläge gegeben habe. Dass man dort frühen Auslandtransfers kritisch gegenübersteht, findet auch Jérémys Mutter richtig: «Der Idealfall wäre wohl gewesen, wenn er noch ein, zwei Jahre in der Schweiz hätte spielen können.»

Selbst in der Promotion League nur Ergänzung

Dass Jérémy Guillemenot trotz seiner Liebe für die Grenats empfänglich war für Offerten, hatte auch mit seiner Stellung im Klub zu tun. «Die letzten zwei Jahre waren eher schwierig», sagte er der «Tribune de Genève» vor seinem Abschied aus Genf. «Es gab Gutes und Schlechtes, aber das Schlechte überwog mehr und mehr.» Heute sei das viel besser geworden, aber damals sei der Schritt von der Akademie in die erste Mannschaft beinahe unmöglich gewesen. Tatsächlich war Guillemenot, eines der grössten Talente, die Servette je hervorgebracht hat, selbst in der Promotion League nur Ergänzungsspieler.

Das konnte einem wie ihm, dem Gérard Castella unbändigen Willen und eine Winnermentalität bescheinigt, nicht genügen. Wie einst Philippe Senderos wagte er bereits mit 18 Jahren den Sprung von Servette zu einem Giganten des Weltfussballs.

Guardiolas Geist schwindet

Jérémys Leben in La Masia, dem Gelände des FC Barcelona, fasst seine Mutter so zusammen: «trainieren, essen, schlafen». Der Anfang war schwierig, doch Jérémy entpuppte sich als wahres Sprachtalent und spricht schon fast fliessend Spanisch. Nun hat er eine eigene Wohnung, 150 Meter vom Trainingsareal entfernt, manchmal besuchen ihn seine Eltern oder Freunde. Ansonsten ist es sehr ruhig, und so mag es Jérémy. Er geht selten aus, trinkt nicht, raucht nicht. Ja, die Konkurrenz sei spürbar, aber sie sei gut und gesund, sagt der Stürmer.

Dass die erste Mannschaft nah und doch noch so weit weg ist, sieht man im Alltag: Jérémys U19 trainiert zwar gleichzeitig wie Messi, Rakitic und Suárez, aber der Platz des A-Teams ist blickdicht abgeschottet. Manchmal werden Junioren für Übungseinheiten mit dem Fanionteam aufgeboten, dieses Glück hatte Jérémy bislang noch nicht. Einzig im Flugzeug an die Champions-­League-Auswärtsspiele – die Partien der Youth League werden in der Vorrunde am gleichen Ort ausgetragen – traf er auf die Stars. Stolz postete er daraufhin ein Foto von sich mit Neymar auf Instagram. «Dem wirst du irgendwann den Platz wegnehmen», kommentierte einer.

Auch Barcelona kauft mittlerweile ein

Doch es hat sich einiges verändert in Kataloniens Hauptstadt. Vor fünf Jahren schoss der FC Barcelona 190 Tore in einer Saison, 150 davon erzielten Spieler aus der eigenen Jugend. Noch immer stehen zehn Akteure im Kader, die schon auf Jérémys Stufe im Klub waren, regelmässig zum Einsatz kommen indes nur die älteren Semester wie Iniesta, Piqué oder Busquets. Den Jungen bleiben oft nur spärliche Teileinsätze im Cup. Selbst Supertalent Munir El Hadadi, festgelegte Ausstiegsklausel 35 Millionen Euro, fand keinen Platz im Team und liess sich nun, mit 21 Jahren, nach Valencia ausleihen. Pep Guardiola sagte einst: «Es gibt keinen grösseren Erfolg, als ein Eigengewächs in die erste Mannschaft einzubauen. Das ist sogar besser als ein Titelgewinn.» Diese Philosophie gilt nicht mehr. Neuzuzüge kommen heute auch beim FC Barcelona zumeist nicht aus La Masia, sondern werden teuer eingekauft.

«In der Schweiz sind die Trainer gezwungen, jungen Spielern eine Chance zu geben. Barcelona aber will die Champions League gewinnen, da wirds schwierig», erklärt Gérard Castella. Auch ihm wäre es lieber gewesen, Guillemenot hätte erst bei Servette Fuss gefasst und dann den Zwischenschritt über Basel oder YB gemacht, aber er will ihn dafür nicht verurteilen:

«Die Jungen wollen heute eben nicht zu Basel oder YB, sondern zu Manchester oder Barcelona. Bei Jérémy gings ja nicht ums Geld, und seine Familie ist wirklich super. Und selbst wenn ihm bei Barça der Durchbruch nicht gelingt, öffnet sich ja vielleicht eine Türe zu einem anderen Klub in Spanien.»

Castella wird sich demnächst vor Ort ein Bild von Jérémys Fortschritten machen. Er betont, dass Trainings und Nachwuchspartien zwar die technische Entwicklung fördern, man dort aber eben nicht lerne, auch gegen Erfahrenere zu bestehen. Die Wettkampfpraxis eben: «Gegen den FC Wohlen ist die Intensität in Zweikämpfen höher als in dieser Nachwuchsliga.» Dass sich Castella so um dieses Juwel sorgt, kommt nicht von ungefähr. Der Verband legt grosse Hoffnungen in Guillemenot. Obwohl er auch für Portugal oder Frankreich spielen könnte, hat er früh klargestellt: «Ich würde nur für eine andere Nationalmannschaft spielen, wenn mich die Schweiz nicht will.» So weit denkt Mutter Dina noch gar nicht: «Wir wollen einfach, dass er glücklich ist und sich weiterentwickeln kann.» Wichtig ist ihr auch, dass ihr Sohn an den Werten festhält, die ihm mitgegeben wurden. Jérémy selber hat noch konkretere Ziele: die UEFA Youth League gewinnen und sich danach einen Platz in der B-Mannschaft der Katalanen sichern, die in der dritthöchsten Division spielt; die U19 muss er altersbedingt verlassen.