Geisterwoche #5: Wars das jetzt?

Unter dem Titel «Geisterwoche» begleitet das SENF-Kollektiv den Rest der Saison 2020/21. Zuletzt setzte es für den FCSG zwei Niederlagen ab, möglicherweise das Ende der Meisterträume. Andrin blickt zurück auf die Pleite in Thun, Renato auf die Klatsche gegen Basel.

Andrin hat trotzdem schon mal anfang August freigenommen

Um mich herum ist es dunkel und stickig. Mit der rechten Hand taste ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Der Bildschirm blendet und ich kneife die Augen zu, doch mein Daumen findet intuitiv die Fussball-App. Es ist Mitte September und ich liege auf meinem Bett im fensterlosen Hotelzimmer auf der Insel Sumatra in Indonesien. Als meine Augen sich an die grelle Oberfläche gewöhnt haben, sehe ich das Resultat. 2:0 für den FC Winterthur – kein Penaltyschiessen, keine Verlängerung, nein, der FCSG scheidet im Cup-Achtelfinal gegen den Unterklassigen nach 90 Minuten sang- und klanglos aus.

Innerlich hatte ich die Saison zu diesem Zeitpunkt bereits abgehakt. Seither hat sich vieles verändert. Die Formkurve der St.Galler, meine Wochenendbeschäftigung – bis vor der Pandemie dachte ich, ein Siegtor in der Nachspielzeit gegen die Grasshoppers sei das schönste im Leben – vor allem aber das Fandasein selbst. Die Abläufe am Spieltag haben sich ebenso gewandelt wie das «Feindbild» unserer Subkultur. An die Stelle von Polizei und Verband tritt das Coronavirus: Ein hartnäckiger, unsichtbar Antipode mit Auswirkungen auf den aktiven Stadiongänger. Und weit repressiver als alles bisher bekannte.

Angst davor, aufzuwachen

In dieser Saison ist vor allem die Gleichgültigkeit weg, mit der ich die Spiele der Espen in den letzten Jahren der sportlichen Bedeutungslosigkeit verfolgt habe. Plötzlich fiebere ich einem Sonntagsspiel gegen den FC Thun entgegen. Auch die Tabelle schaue ich beinahe täglich an, als hätte ich Angst, irgendwann aus einem Traum aufzuwachen und zu realisieren, dass der FCSG eigentlich nur auf dem sechsten Platz steht und das letzte Heimspiel gegen Luzern durch ein unglückliches Eigentor von Slimen Kchouk verloren hat.

Das Spiel gegen den FC Thun sehe ich im Bierhof. 80 Minuten lang bin ich der Meinung, ein Unentschieden sei zu wenig Lohn, dann stehe ich verkrampft vor dem Fernseher und hoffe auf ebendiesen Punktgewinn. Er trifft nicht ein, der FCSG verliert die Tabellenspitze.

Vor dem M-Wort hüte ich mich bewusst, der Glaube daran bleibt trotz der Niederlage bestehen. Deshalb ging ich am nächsten Morgen auch gleich zu meinem Chef und warnte ihn vor für den Fall, dass das Auswärtsspiel in Bern entscheidend sei. Er hat mir den Dienstag anfangs August freigegeben. «Sei ja klar, dass ich an jenem Montagabend abstürzen werde.» Ich glaube, er unterschätzt das Ganze.

RENATO GIBT SEINEM TEXT DEN TITEL «ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT»

Am Mittwoch kam ich zurück. Nach vielen Monaten im Aargauer und Zürcher Exil. Der Arbeit und der Liebe wegen verschlug es mich in diese gottverdammten Kantone. Inzwischen fragte ich nach einem «Zeltli» und sagte «ich» statt «i». Inzwischen war der FC St.Gallen Meisterschaftsanwärter.

Es war Mittag, als der Zug in St.Gallen einfuhr. Ich sass allein mit einem Koffer und zwei Taschen in einem Waggon. Ich dachte, die Menschen gehen nicht in diese Stadt. Wenn, dann verlassen sie St.Gallen. Wie in Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, wo der Zug in Güllen selten hielt und überdies kaum Menschen brachte.

Heute brachte der Zug mich. Zurück nach St.Gallen.

Fotos und Billette als Gewissheit

Am Nachmittag räumte ich mein Kinderzimmer auf. Ich war aufgeregt ob meiner Rückkehr und dem wichtigen Spiel am Abend. Also versuchte ich, zumindest im Fassbaren Ordnung zu schaffen. In alten Schuhkartons fand ich Fotos und Billette von Festivals und Fussballspielen. Es war ein wenig, als musste ich mich vergewissern, hier wirklich eine Geschichte zu haben.

Mit meiner Mutter sprach ich selten über Fussball. Doch an Spieltagen fragte sie jeweils: «Gohsch an Match?» Und wenn ich nach Hause kam, fragte sie verlässlich: «Hends wieder verlore?» In dieser Saison verlor der FCSG selten und gewann oft. Ich hätte sie gern fragen hören: «Hends wieder gwunne?» Um halb acht stand ich dann an der Tür. «Gohsch an Match?», fragte sie. «Nein», sagte ich. Ich müsse nicht arbeiten und ins Stadion würden ja sowieso nur ein paar wenige dürfen. «Gange zum Adi goh luege», sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

Ein Bus als Zeichen

Ich stieg in den Hunderteinundfünfziger. Er war grün und weiss bemalt und das Logo des FC St.Gallen klebte zwei Meter gross über einem der Fenster. Ich fragte mich, ob mir jemand etwas mitteilen wolle. Im Stahl stieg ich aus, weil ich merkte, dass ich den falschen Bus genommen hatte. Mit dem Achter oder Dreier wären es zu Fuss nur noch ein paar Meter gewesen. Ich war wohl zu lange nicht mehr hier. Doch es war warm und ich früh dran. Ich freute mich, über die Kreuzbleiche zu laufen.

Ich ging an der Militärkantine vorbei, wo viele draussen sassen. Sie tranken ihr Bier und assen zu Abend. Mein einstiger Berufsschullehrer kam mir mit dem Hund entgegen. Ich spürte seinen Blick, tat aber, als sehe ich ihn nicht und starrte auf mein Handy. Auch mit sechsundzwanzig Jahren war ich überfordert mit mir und meinem Alltag und allem anderen. Auf der Wiese spielten einige Fussball, auf dem Hartplatz Basketball.

Ich lief über die Brücke an der Vonwilerstrasse und sah den Güterbahnhof auf der linken Seite. Ich erinnerte mich an die Abende dort, im Kugl. Die Kleidung klebte am Körper, der Wodka mit Red Bull am Boden und ich an Anja. Über dem Bahnhof lag der Freudenberg mit den Weiern und seinen vielen ersten Malen. Die Sonne färbte den Hügel orange. Mir wurde ein bisschen warm ums Herz. Ich genoss es, mich an meine Geschichten an diesen schönen Orten zu erinnern.

Eigentlich schon noch schön

Einmal kamen ein paar Leute, die mit mir studierten, nach St.Gallen. Eine Zürcherin sagte irgendwann: «Sangalle isch ja eigentli scho na schö.» Als erstaune sie, dass ausserhalb der Zürcher Stadtgrenzen noch was komme, das schön ist. «Gäl!», sagte jemand anderes. Vielleicht ist es auch ganz gut so, dass gewisse Menschen nicht nach St.Gallen oder Güllen kommen. Ich passierte das Restaurant Ritter. Vom Balkon hingen grüne und weisse Fahnen, davor standen ein paar Leute. Einer liess sein Bier fallen und rief «Heilandzack!».

Ich hielt an, weil ich Tropfen auf meiner Haut spürte. Ich sah nach oben, die Sonne schien und der Himmel über mir war blau. Doch offenbar trug der Wind die Regentropfen von den entfernten Wolken bis zu mir. Ich dachte mir, das geht nur in St.Gallen: Blauer Himmel, Sonne und Regen. Und, natürlich, kein Regenbogen. Wieder fragte ich mich, ob mir jemand etwas mitteilen wolle.

Alles wieder wie früher

Bei Adi öffnete ich ein Bier. Ich hatte ein gutes Gefühl. Ein paar Minuten später führte der FC Basel mit 2:0 und es war wieder wie früher. «Es isch so klar gsi», sagte ich zu Adi. Immer dasselbe. Hoffnung, zumindest unausgesprochene, und dann: Enttäuschung. Als wäre ich nie weggewesen.

Ich ärgerte mich. Über den Videoschiedsrichter, Valentin Stocker und selbstgefällige Berner. Insgeheim ahnte ich, dass dieser Trotz zu einem wesentlichen Teil aus Minderwertigkeitskomplexen bestand. Als ich das erste Mal ausserhalb von St.Gallen arbeitete, stellte ich mich vor. Einer grinste und ich dachte, er fände meinen Nachnamen lustig. Wenn ich später etwas sagte, lachte manchmal einer und ich wusste nicht, weshalb. Irgendwann äffte mich eine nach und ich verstand. Ich bin aus St.Gallen. St.Gallen ist höher als viele andere Städte und doch irgendwie weiter unten. Wir sind am Rand und viel zu oft Randnotiz. Ich hätte es der Fussballschweiz gern gezeigt.

Durchnässt, wütend und traurig

Später stand ich an der Bushaltestelle, war durchnässt und wütend und traurig. Ich badete im Regen und ein bisschen auch im Selbstmitleid. Hinter den schweren Tropfen hörte ich die Kirchenglocken, die verkündeten, dass es jetzt dreiundzwanzig Uhr war. Elf Stunden war ich wieder in St.Gallen. Diese elf Stunden reichten, um mich wieder wirklich anzukommen. Als ich nach Hause kam, hörte ich meine Mutter rufen. Ich schloss die Tür ab und ging zu ihr in die Küche. Sie fragte: «Hends verlore?»