Geisterwoche #3: Emotionen, Freude und Zweifel

Unter dem Titel «Geisterwoche» begleitet das SENF-Kollektiv den Rest der Saison 2020/21. Die letzten beiden Spiele waren ein Auf und Ab – das zeigen auch die Texte von Gastautor Thomas zu St.Gallen-Sion und von Remo zu Lugano-St.Gallen.

Thomas stellt seinen Text unter den Titel «I’ve got a feeling»

Zehn Minuten sind gespielt. St.Gallen presst, St.Gallen kämpft, St.Gallen zwingt dem Gegner das eigene Spiel auf. Auf dem Konto der St.Galler stehen schon drei Abschlüsse. Von Sion kommt bis zu diesem Zeitpunkt herzlich wenig. Ja, die Grün-Weissen geben dem Gast aus dem Wallis kaum eine Chance, sich zu entfalten. Schon in der fünften Spielminute sagt der Teleclub-Kommentator: «Es macht einfach Spass, dem FCSG beim Spielen zu zusehen.» Und ja, seine Aussage trifft (nicht nur in dieser Startphase) ins Schwarze. 

Es läuft die zwölfte Minute. Demirovic trifft nach einem Eckball. Dem Corner ging ein Durcheinander im Strafraum der Sittener voraus. Es ist das gefühlt 500. Saisontor nach einem stehenden Ball. Wir liegen uns in den Armen, der Espenblock tobt… Schön wäre es. 

«Wo zum Teufel sind die Katzen?»

Allein sitze ich vor dem Fernseher in Sennwald (WTF, Sennwald?). Kurz balle ich meine Finger zur Faust und frage mich: «Wo zum Teufel sind die Katzen?» Sieben Zeigerumdrehungen später erhöht unser bosnischer Stürmer auf 2:0. Mit dem Kopf verwertet er einen Abpraller von der Latte. Mein Jubelszenario auf dem Sofa (ach, wie liebe ich die Couch) wiederholt sich. Wieder stellt sich die Frage: «Wo zum Teufel sind die Katzen?» Natürlich habe ich sie nicht gesucht, ich schaue ja Fussball. Die Frage nach dem Standort der kleinen Vierbeiner ist weniger wichtig als die Frage, wie ich mit diesen überraschenden Erfolgserlebnissen umgehe. Wie steht es emotional um mich und den FC St. Gallen? Darf oder muss man vergleichen?

Bis zum Cupmatch in Winterthur (läck, isch da scho lang här) sah es nach einer normalen FCSG-Saison aus. Ich habe mich auf eine weitere, fast alljährliche, Übergangssaison eingestellt – wurde dann aber eines Besseren belehrt. Seit diesem Spiel zeigt die junge St.Galler Mannschaft, was sie zu leisten imstande ist. Unter der Regie von Zeidler gewinnt sie nicht nur die Spiele, sie zelebriert den Fussball auch (meistens zumindest). Dies zur Freude aller. Aller? «Jo secher», sage ich in meinem Rheintaler Dialekt.

Seit 20 Jahren warten wir

Wir warten schon wieder 20 Jahre auf den Gewinn eines Pokals. 13 Jahre war ich jung, als St.Gallen 2000 die Meisterschaft gewann. Seit diesem Triumph möchte ich dieses Gefühl mit dem FCSG nochmals erleben. Etwas gewonnen haben wir in der Zeit seither nicht. Klar, wir haben beachtliche Resultate im Europacup erreicht und durften 2013 überraschend durch Europa reisen. Unvergessliche Ergebnisse, die in der Vereins- und meiner Lebensgeschichte eine grosse Rolle spielen und einen grossen Fussabdruck hinterlassen haben. 

Zwischen 2000 und 2020 stiegen wir zweimal aus der höchsten Liga ab. Die Emotionen, die ich beim letzten Saisonspiel 2011 in Bern durchlebt habe, habe ich nie vergessen; etwa den Torjubel bei der zwischenzeitlichen 1:0-Führung. Noch nie habe ich ein Tor so gefeiert. Doch das Spiel endete 4:2 für die jungen Burschen aus Bern und wir stiegen ab. Auch die Tränen, die da geflossen sind, sind unvergesslich. Noch mehr Tränen und Emotionen löste der Abstieg 2008 aus. Dieses Erlebnis war bitter, enttäuschend und irgendwie surreal. Bis zum Start der darauffolgenden Saisons litt ich jeweils unter den Abstiegen. 

Rückblickend bezeichne ich diese Erlebnisse und die da gelebten Gefühle als schön und gleichwertig mit dem Titelgewinn 2000. Und als viel intensiver als die aktuelle Saison. Ich will das damals Gefühlte nicht mehr missen. Das hört sich komisch an, ist aber so. Wer liebt, der leidet; wer leidet, der lebt. 

Leide ich lieber, als ich mich freue?

Natürlich freuen mich die aktuellen Resultate und das spannende Rennen um die Meisterkrone dieses Jahr. Das Empfinden ist aber anders. Liegt es daran, dass ich älter geworden bin und ich mich versuche – vielleicht aus Selbstschutz –, emotional zu distanzieren? Oder leide ich einfach lieber, als dass ich mich freue? Für die Leidenstheorie würde der regelmässige Alkoholkonsum sprechen. «Trink’ noch ein Bier, ex’ noch einen Shot, bestell’ den nächsten Drink», befiehlt der innere Sauhund. Und ich, ich beuge mich im Wissen, am nächsten Tag leiden zu müssen. Aber wer so viel geliebt und gelitten hat wie wir, hat auch mal grosse Erfolge verdient. Wir sind Meisterkandidat!

Hoppla, da habe ich mich in meinen Gedanken verloren. Das Spiel ist schon fast zu Ende. In der 22. Minute hat Sion den Anschlusstreffer markiert. Das Spiel gestaltet sich nun ausgeglichener. Die Walliser haben auch vermehrt Chancen und St.Gallen zeigt, auch verteidigen zu können. Übrigens, die Katzen sind zurück. «Wieso zum Teufel nerven mich die Katzen jetzt? Lasst mich Fussball schauen, geht weg von mir!»

Remo stellt seinen Text unter den Titel «Revolution, weniger wollten wir nicht»

Stefano Okaka Chukas Tor lässt mich völlig kalt. Der Udinese-Stürmer hat gerade in Ferrara zum 2:0 für seine Farben getroffen, der Treffer könnte seinem Team einen enorm wichtigen Sieg im Abstiegskampf sichern. Ebenso kalt wie mich scheint das Tor den englischen TV-Kommentator zu lassen. Seine Tonfarbe wechselt nicht im Geringsten. Und so sprechen alle englischen Kommentatoren, die im Bezahlfernsehen Serie-A-Spiele kommentieren. Ob sich so die Attraktivität eines Produkts erhöhen lässt?

Da haben wir das Thema, das mich seit Wochen beschäftigt: Pay-TV. Ich habe nach der Coronapause ein Teleclub-Abo gelöst. Dieses nutze ich, obwohl SPAL-Udinese nur die Zeit bis zum Anpfiff von Lugano-St.Gallen verkürzt. Es ist mir komplett egal, ob sich Stefano Okaka Chuka nun in die Torschützenliste einreiht oder nicht. Ich hielt ihn immer für eine Flasche und eines Besseren belehren wird er mich damit nicht. Mir ist wichtiger, nach einem mühsamen Arbeitstag (weil mein Büro nach wie vor eine Sauna ist) zu entspannen.

Fussball als Massenware. Ich als Konsument. Mit dem Gefühl, mit jedem Einschalten des Fernsehers mich vor mir selbst rechtfertigen zu müssen. Man darf ja nicht ins Stadion. Und es kommt jeden Abend Fussball. Warum sollte ich kein Bezahl-Abo lösen?

«Scheiss Sonntagsspiele»

Wir haben gekämpft, damals, als wir mit einem orangen Banner durch die Stadien zogen, auf dem «Scheiss Sonntagsspiele» stand. Oder als wir «Scheiss Star-TV» auf einen Fetzen schrieben, um unseren Unmut über die Montagsspiele in der Challenge League auszudrücken. Wir dachten, die entrückte Fussballwelt verändern zu können, ja wir waren überzeugt davon. Das Fernsehen hat die Fussballwelt verändert, diktierte plötzlich die Spielpläne, warf mit Geld um sich und entfernte dem Sport vom Allgemeingut, das er eigentlich ist. Das gefiel uns gar nicht. «Revolution, weniger wollten wir nicht», sangen die Ärzte einst.

Und: «Heute stehst du bei Hertie an der Kasse, da ist keine Sehnsucht mehr in deinem Blick.» Es ist ein wehmütiges Lied über das Verblassen von Idealen, für die man einst eingestanden war. Auf dem Sofa sitzend und teilnahmslos in den Fernseher glarend fühle ich mich irgendwie angesprochen. Verrate ich mit dem Pay-TV-Abo wirklich die Ideale, für die ich einst einstand? Oder bin ich einfach nur älter und bequemer geworden? Was kommt als nächstes, vielleicht ein Familienkombi oder On-Schuhe?

Fortschrittsverweigerer?

Lugano trifft zum 1:0, St.Gallen tauscht Letard durch Ribeiro aus. Quintillà gleicht per Penalty aus. Das Fernsehen zeigt es aus verschiedenen Kamerawinkeln, mein früherer Arbeitskollege am Mikrofon macht seine Sache ganz gut. Er ist emotionaler als der Engländer von SPAL-Udinese und doch sachlich. Victor Ruiz bringt St.Gallen 2:1 in Führung. Kommentator Marko Vucur sagt, Lugano habe diese Saison zwei Spiele nach einem Vorsprung verloren – beide gegen St.Gallen. Als Statistikliebhaber mag ich solche Details.

Der Service stimmt, und doch zweifle ich. Mein Chef hat mich kürzlich «Fortschrittsverweigerer» genannt, weil mir das iPhone 11 zu gross war und ich ein weniger gutes, aber kleineres Natel kaufte. Dabei bin ich gar nicht gegen den Fortschritt. Ich habe digitales Pay-TV. Und zappe in der Pause durch die Instagram-Storys – und stelle fest, dass viele Freunde auch Pay-TV konsumieren. Auch Traditionalisten, die in der Kurve stehen und darauf bestehen, alle Kickschuhe müssten schwarz sein. Dabei finde ich Cedric Ittens pinkes Schuhwerk ungelogen geil. Ich ein Fortschrittsverweigerer? Pah!

Verona-Inter zum Runterkommen

Wenige Sekunden nach Wiederanpfiff trifft Lugano zum 2:2. Victor Ruiz wird ein Tor vom VAR aberkannt, weil Ermedin Demirovic in der Schussbahn und somit im Abseits stand. Demirovic trifft per Hechtkopfball zum 3:2 für St.Gallen. Mein Vater bringt ein Glas Wein. St.Gallen wird zu passiv, es ist jetzt keine Entspannung mehr, sondern Spannung pur. Itten steigt am höchsten, bringt den Ball aber nicht im Tor unter. Covilo muss aufpassen, der hat schon Gelb gesehen.

Lugano trifft zum 3:3. Tiefe Enttäuschung macht sich in mir breit. «Scheisse», entfährt es mir. «Noch ist es nicht vorbei», sagt der Kommentator. Aber St.Gallen spielt schlecht, der Ausgleich ist verdient. Es ist verdammt nochmal sauspannend. «Spiel doch, du…!», sage ich, weil Ribeiro den mitgelaufenen Bakayoko ignoriert. Das wäre der Matchball gewesen. Ob verdient oder nicht, interessiert doch keine Sau. Meine Zweifel sind übrigens auch kurzfristig verflogen. Diese Spannung, diese Dramatik, diese Emotionen, einfach geil. Aber jetzt muss ich herunterkommen. Ich schaue jetzt noch die zweite Hälfte von Verona-Inter.