Geisterwoche #2: Ein Theater und ein dreifaches Duell

Unter dem Titel «Geisterwoche» begleitet das SENF-Kollektiv den Rest der Saison 2020/21. Zwei Kollektivmitglieder berichten davon, wie sie die Spiele erlebt haben: Zuerst schreibt Renato in Theaterform über den 3:2-Sieg gegen Thun, dann Remo in Prosa über den 2:1-Sieg in Neuchâtel.

Renato hatte das Privileg, St.Gallen gegen Sion im Stadion zu sehen.

Der Besuch beim neuen Meister

Eine tragische Komödie

Neufassung 2020

Erster Akt

Stimme des Stadionsprechers, der Sponsoren- und Spielernamen verliest, klebrige Popmusik, bevor der Vorhang aufgeht. Dann die Inschrift: Kybunpark. Offenbar der Name des Stadions. Im Hintergrund angedeutet die verwaiste Sitterbühne, ruiniert, zerfallen, und die Türme der Kathedrale in der Innenstadt. Auch das Stadion einigermassen verlassen und verwahrlost. Grauer und hässlicher Beton, darauf viele hellgrüne Sitzschalen, bleich vom Warten und dem heissen Frühling, leer. Inmitten dieser Sitzschalen ein langes graues Pult. Laptops im Abstand von zwei Metern. «Senf» steht in der Mitte des Schreibtisches auf Papier geschrieben, Windows-98-Formatierung, lieblos laminiert. Die Laptops beklebt mit hoffnungslos idealistischen Leitsätzen aus längst vergangenen Studienjahren. Neben den beiden Laptops halbleere Bierbecher, hinter ihnen zwei erwachsene Männer von über 30 Jahren, beide mit Namen ERES, verkatert und verschwitzt, in erbärmlichem Zustand. Vor den Sitzplätzen eine grüne Wiese, darauf Menschen in grünen und roten T-Shirts, kurzen Hosen und Stutzen. Alles in eine heisse Sommersonne getaucht.

ERES (emotionslos)
Viel los.

ERES (emotionslos)
U huere.

ERES (desinteressiert)
Sus, wie laufts?

ERES (sehr desinteressiert)
Guet, guet. Bi dir?

ERES (apathisch)
Au.

Es folgt ein minutenlanges Schweigen, das einmal unbehaglich war, mittlerweile aber vertraut ist. Beide lächeln das unerschütterliche Lächeln des Gleichgültigen. Irgendwann erhebt sich Eres.

ERES (zögerlich)
E Bier wölle?

ERES
Voll.

Eres ab.

Zwei Menschen in grün-weissem Gewand kommen vorbei, grüssen mit dem Ellbogen.

Augenringe und Alkoholfahne. Auch sie in erbärmlichem Zustand.

ERES (vielsagend)
Wie isch gest no gsi?

DER ERSTE FAN (lachend)
Cha mi nur no dra erinnere, wien i dihei Fertigrösti gmacht ha.

DER ZWEITE FAN
Und wie bisch heicho?

DER ERSTE FAN (amüsiert)
Kei Ahnig. Han jedefalls s Hemd nöd heignoh, won i gest ahgha han.

Alle lachen. Die beiden Fans ab.

Eres kommt mit zwei vollen Bierbechern zurück und lächelt das unerschütterliche Lächeln des Glücklichen.

ERES (heiter)
Zum Wohl.

ERES (lebensfroh)
Zum Wohl!

ERES (hoffnungsvoll)
I rechne eigentli fest mit eme null zu drü.

ERES (melancholisch)
I ha au nonig begriffe, dass mir etz eifach guet sind.

Eres und Eres seufzen.

ERES (neugierig)
Wie spieleds eigentli?

ERES (entsetzt)
Was? Wötsch d Ufstellige scho bringe?

ERES (sachlich)
Spezielli Situatione verlanged spezielli Massnahme.

ERES (fachmännisch)
Spieled im 4-4-2, nöd?

ERES (besserwisserisch)
Mit ere Raute, wie mer im Jargon seit.

Die Mannschaften kommen nacheinander auf den Platz.

ALLE (vehement)
Hopp Sangalle! Hopp Sangalle!

STADIONSPEAKER
Viel Spass bim Spiel zwüsched em FC Sangalle 1879 und em FC Thun.

Ein schwarzgekleideter Mann pfeift, das Spiel beginnt.

Ein Mann in rotem Tenue liegt am Boden. Aus der Ferne hören Eres und Eres die Stimmen der beiden Fans.

DER ERSTE FAN (laut)
Du huere Wixer!

DER ZWEITE FAN (sehr laut)
Stoh uf, du Wixer!

ERES (sehnsüchtig)
Ach.

Eres kichert.

St.Gallen schiesst ein Tor, Eres tippt und Eres nimmt einen Schluck. Die Grünen sind oft am Ball, die wenigen Zuschauer klatschen und jubeln. St.Gallen trifft erneut, Eres nimmt einen Schluck und Eres tippt.

ERES (fachmännisch)
De Hefti isch z guet für die Liga.

ERES (teilnahmslos)
Jo, scho so.

Die Nummer acht tritt einen Freistoss. Der Ball fliegt ins Tor, flüchtiger Lärm und Jubel bei den anwesenden Menschen.

ERES (staunend)
Heilandzack.

ERES (verblüfft)
Krass.

ERES
Säg nüt.

ERES
Wa für e Goal.

ERES
Krass.

ERES (protestierend)
Da isch nüme üsen FCSG.

ERES (nachdenklich)
Nei.

Die beiden Fans kommen mit vier vollen Bierbechern an der Pressetribüne vorbei, überreichen zwei davon Eres und Eres.

ERES (überschwänglich)
Zum Wohl!

DER ERSTE FAN (euphorisch)
Läck, de Freistoss.

DER ZWEITE FAN (fasziniert)
De macht er, als wärs s Normalste uf de Welt.

ERES
Würkli krass.

DER ZWEITE FAN
Etz müends was fürs Goalverhältnis mache.

ERES (aufmerksam)
Eis no, denn sinds wieder Erste.

DER ZWEITE FAN
Aber de Rapp stolperet sicher no eine ine.

Alle nicken. Die beiden Fans ab.

ZEIDLER (laut)
Kompakt!

ERES
I hole Bier. Nimmsch au eis?

ERES
Easy.

Eres ab.

Nachspielzeit, Thun verkürzt auf zwei zu drei.

ERES (eilig)
Chasch du schnell was schriebe?

ERES (ahnungslos)
Hä?

ERES (irritiert)
Es het, glaubs, e Goal geh.

ERES (sehr ahnungslos)
Würkli? Wer het troffe?

ERES (genervt)
Thun.

ERES (neugierig)
Und wer het s Goal gschosse?

ERES (kapitulierend)
Kei Ahnig.

STADIONSPEAKER
Drüenünzigsti Spielminute, Goal für de FC Thun. Torschütz, mit de Nummer drizäh: Simone Rapp.

Der Schiedsrichter beendet das Spiel.

ERES
Wieder gwunne.

ERES
Jo.

ERES
Aber s isch komisch. Chasch au gar nöd fiire, het jo nüt offe.

ERES
Stimmt. Nöd viel los.

ERES
U huere.

Eres ab.

Remo verfolgte Xamax-St.Gallen nicht im Stadion, sondern im Rheintal

In all den Jahren mit dem FCSG habe ich drei Lieblingsdestinationen entdeckt. Die erste heisst Locarno. Neben dem Stadion liegt der See, es regnet nicht immer wie in Bellinzona und die Einheimischen zeichnen sich durch bierselige Gastfreundschaft aus sowie durch die Fähigkeit, hervorragende Wurstwaren herzustellen und zu grillieren. Die zweite heisst Nyon. Es war ein magischer Moment, als wir in der Challenge League durch das malerische, uns unbekannte Städtchen liefen. Aus den Strassenrestaurants duftete es nach gebratenem Fisch, einer von uns stahl im Stadion Weissweinflaschen. Ein Hauch Europacup schien in der Luft zu liegen.

Mit der dritten Destination verbinde ich mehr als mit Locarno oder Nyon. Sie heisst Neuchâtel. Eine unbekannte Anzahl Besuche, verbunden mit einer unbekannten Zahl Bieren sowie Bekanntschaften mit zuvor Unbekannten macht Neuchâtel dazu, was es ist: Meine Lieblingsdestination. Aber nicht die schöne Altstadt oder das Seeufer, sondern die Bar, die alle heute noch Malabar nennen, obwohl sie schon lange nicht mehr so heisst. Ein Lokal, in dem es die Stange für drei Franken gibt, es auf dem WC nach Suze und Kotze riecht und die Fans auf dem Vorplatz ihren Grill aufstellen dürfen, um würzige Merguez zu braten. Die Malabar, das ist Lebenslust. Ein kleiner Mikrokosmos neben dem Stadion, in dem sich Jung und Alt und Dazwischen aufs Spiel einstimmen und St.Galler immer willkommen sind.

Berneck statt Jurasüdfusslinie

Heute darf ich nicht in die Malabar. Statt im ICN auf der Jurasüdfusslinie befinde ich mich im Bernecker Büro. 29 Grad und 47 Prozent Luftfeuchtigkeit zeigt der Hygrothermometer an, den ich kürzlich im 50-Prozent-Rabatt-Sektor des Coops Heerbrugg erstöbert habe. Es gibt ein kurzes Gewitter, dann Wind und gesäuberte Luft. Der Blick schreibt, Bernie Ecclestone sei mit 89 Jahren nochmals Vater geworden und ab sofort gelte im öffentlichen Verkehr Maskenpflicht. Was wohl Karin Keller-Sutter zu diesem Vermummungsgebot sagt? Im SENF-Whatsapp-Chat machen Bilder von grellgrünen Bratwürsten die Runde, die eine Gossauer Metzgerei hingezaubert hat. YB hat in Genf 1:1 gespielt, St.Gallen hat die Möglichkeit, erstmals mit Abstand Leader zu werden. Basel liegt in Lugano hinten.

Das ist auch auf dem Fussballplatz Degern ein Thema. Dort begegnen sich Au-Berneck und Widnau. 250 Zuschauer sind da, es ist spürbar: Seit es wieder Fussball gibt, kommen sie auch zu Testspielen, die sonst niemanden interessieren. Es entwickelt sich ein müder Kick. Widnau hat zuvor drei Tage lang Kondition trainiert, Au-Berneck das Team umgekrempelt. Basel hat in Lugano verloren, nach einer guten halben Stunde verlassen einige die Degern, weil sie St.Gallen sehen wollen. Ich bleibe noch kurz und sehe, wie ein Auer Verteidiger seinen eigenen Goalie mit einem Rückpass bezwingt, Widnau führt 1:0. In der Pause führt mein Weg in den Hasenstall.

So heisst eine Beiz beim Bahnhof Au, die Live-Fussball zeigt. Als ich die Degern verliess, stand es bei Xamax-St.Gallen 0:0, bei der Ankunft im Stall 1:1. Hoppla. Der Rest der ersten Halbzeit gefällt mir gar nicht. Die Neuenburger sind besser als erwartet, und obwohl ich meinen Freunden Punkte gönnen würde, müssen sie diese ja nicht jetzt holen. Zur Pause entwickelt sich neben Au-Widnau und Xamax-St.Gallen dann ein weiteres Duell: Hasenstall gegen Technik. Die TV-Übertragung hackt immer wieder, bis der Chef die von Kollege Christian vorgeschlagene Notbremse zieht: «Oa mol alls abschaalta und wieder iistelle», der Klassiker. Mäni neben mir zweifelt an der Wirksamkeit dieser Massnahme: «Dä Soach tut eh numm, i bstell lieber nomel a Fläascha!» Jetzt ist der Bildschirm ganz schwarz. «Besser als all da Hii und Häar», raunzt einer hinter mir.

Freibier statt Livebild

Aufmerksame Leser erraten, wie es kam: Nach halbstündigem Kampf – das Bild flackert immer wieder auf, ab und zu gibt es eine halbe Spielsequenz zu sehen – gibt der Chef auf. Er errötet, würde am liebsten im Boden versinken. Doch die Rheintaler sind solidarisch, machen ihm keine Vorwürfe. Besonders nicht, weil er sich mit einer Runde für alle entschuldigt. So funktioniert das hier. Kollege Christian zückt das Handy und öffnet eine App. In dieser ist stets zu sehen, wo der Ball gerade ist. Als er mir das zeigt, bleibt der Ball stehen. «GOAL», steht da. Geil! Itten, der Mann aus Basel mit den schönen pinken Fussballschuhen hat den FCSG in Führung gebracht. Lobeshymnen auf den besten Schweizer Stürmer der Liga brechen aus, ich teile die Meinung.

Im Hasenstall entsteht eine lockere Stimmung, die Leute lachen mehr als sie tun würden, würde der Fernseher funktionieren. Vielleicht ist es auch besser, tut er das nicht, denn das Spiel war offenbar keine Offenbarung. «Aber woasch, so weart ma Meischter!», ruft der gleiche, der zuvor nicht bedauert hatte, dass das Bild ausfiel. Ich bin da weniger euphorisch, aber den 2:1-Sieg kann uns niemand mehr nehmen. Wie gern hätte ich darauf in der Malabar angestossen. Nächstes Jahr vielleicht wieder.