Erinnerungen an den Meistertitel

Heute vor 20 Jahren wurde der FC St. Gallen zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte Schweizer Fussballmeister. Wir alle haben die grün-weiss gefärbten Haare, die Siegeszigarren, die Massen an Feiernden auf dem Marktplatz, die legendären Interviews mit den Spielern und die unglaubliche Euphorie noch so vor Augen, wie wenn es gestern gewesen wäre. Wie haben wir vom SENF-Kollektiv diesen denkwürdigen Moment erlebt?

Soraya (Jg. 1987) liess beispielsweise gar ihre eigene Geburtstagsfeier sausen, um auf dem Marktplatz mit den anderen FCSG-Fans zu feiern:

Den 21. Mai 2000 habe ich auch heute noch in lebhafter Erinnerung. Eigentlich war an diesem Tag meine um einen Tag vorgezogene Geburtstagsfeier geplant. Sowohl meine Grosseltern als auch Gotte und Götti sowie alle meine Schulfreundinnen und -freunde waren eingeladen, um meinen 13. Geburtstag zu feiern. Womit ich an dem Tag aber nicht gerechnet hatte – und vermutlich auch meine Mutter nicht, die den ganzen Tag in der Küche stand – war, dass ich selbst gar nicht daran teilnehmen würde.

Wie es dazu kam? Ganz einfach: Ich schaute mit meinem Bruder das entscheidende Spiel Servette gegen Basel im TV, wobei unser Jubel grenzenlos war, als der zweite Meistertitel des FCSG endlich Tatsache war. Ich war allerdings schon einige Tage zuvor felsenfest davon überzeugt gewesen und hatte mir mit meinem letzten Taschengeld deshalb eine grüne 7-Tages-Haartönung gekauft – heimlich versteht sich.

Als ich mich nach einer Weile halbwegs vom Jubeln erholt hatte, ging ich wortlos ins Badezimmer, um mir die Haare zu färben. Leider hatte ich die Länge etwas unterschätzt und so reichte die gekaufte Haartönung gerade einmal knapp für die Hälfte meiner Haarpracht. Meiner ohnehin schon schockierten Mutter und den eben eingetroffenen Gästen erklärte ich dann auch gleich, dass ich jetzt leider in die Stadt gehen müsste, schliesslich gebe es da wichtigeres zu feiern als den eigenen Geburtstag.

So kam es, dass ich meine eigene Geburtstagsfeier sausen liess und stattdessen mit meinem Bruder in die Stadt fuhr, um den Meistertitel auf dem Marktplatz zu feiern. Was ich an diesem 21. Mai 2000 und an der späteren, offiziellen Meisterfeier erleben durfte, waren Erinnerungen fürs Leben. An dieser Stelle möchte ich deshalb meinen Eltern nochmals danke sagen, dass ich trotz der geplatzten Geburtstagsfeier auf den Marktplatz gehen durfte!

Nicht ganz so verständnisvoll reagierten die Eltern von Nicole (Jg. 1986) auf den Wunsch ihrer Tochter, mit Tausenden anderen Fans spätabends den Meistertitel feiern zu wollen:

An den 21. Mai 2000 kann ich mich noch gut erinnern. Ich verfolgte das entscheidende Spiel gemütlich vor dem Fernseher von zuhause aus. Daran, was ich danach tat, kann ich mich ebenfalls noch gut erinnern.

Oder besser: Daran, was ich danach nicht tat. Ich traf mich nicht mit dem Onkel und der Cousine, den Freundinnen und Freunden, mit denen ich jeweils die Spiele im Espenmoos besuchte. Ich fuhr nicht in die Stadt, ging nicht zum Marktplatz an die Meisterfeier. Ich durfte nicht – schliesslich war ich der Ansicht meiner Eltern nach noch zu jung, um abends zusammen mit Tausenden von Menschen in der Stadt diesen Titel zu feiern.

Es gab kein Wenn und Aber – alles Betteln nützte nichts. Mit dem heutigen Wissen würde ich mich der Stimme der Räson – sprich derjenigen der Eltern – widersetzen und trotzdem hingehen.

PS. Meine Eltern sagen dazu heute: Mit dem heutigen Wissen würden sie mich hingehen lassen.

Obwohl Dario (Jg. 1993) noch viel jünger war, konnte er auf dem Marktplatz zugegen sein – dies nicht zuletzt dank des Tricks mit dem kurzzeitig ausgeschalteten Fernseher:

Ich war damals gerade mal knapp sechs Jahre alt und kaum grösser als einen Meter und fand an diesem Tag trotzdem meinen persönlichen Helden.

Enttäuscht über die vermeintlich ausbleibende Meisterfeier sass ich beim Stand von 0:1 für den FCB zu Hause vor dem Fernseher. Ein guter Freund unsere Familie, der zum Grillieren zu Besuch war, gab mir einen letzten Funken Hoffnung: «I kenn en Trick! Mir müend de Fernseh füüf Minute lang usschalte. Wennd wieder ischaltisch, denn hets e Goal geh!» Gesagt, getan. Ich konnte meinen jungen Augen nicht trauen, als ich den Fernseher wieder einschaltete und Servette tatsächlich den Ausgleich erzielt hatte.

Danach ging es schnell ab ins Auto an die Meisterfeier auf dem Marktplatz, wo ich gefühlt der kleinste und jüngste Mensch auf dem ganzen Platz war. Mit dem frisch übergestreiften und mittlerweile legendären Meistershirt sass ich auf die Schultern meines persönlichen Helden. Ich konnte weder einordnen noch realisieren, was rund um mich herum geschah. Es war einfach zu überwältigend für mein damaliges Ich.

Den Trick habe ich seither übrigens nie mehr gebraucht, denn ich will nicht, dass er seine Magie verliert.

Auch bei Curdin (Jg. 1991) spielte Magie damals eine grosse Rolle – jedoch auf eine ganz andere Art und Weise:

Als der FC St.Gallen im Jahr 2000 zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte Schweizer Meister wurde, war ich knapp zehn Jahre alt. Ich liess mich damals mehr von den Abenteuern von Harry Potter und seinen Freunden in Hogwarts verzaubern, als von den magischen Auftritten Marcel Kollers und seiner Mannschaft im Espenmoos. Folglich besuchte ich weder eines der sagenumwobenen Heimspiele der Meistersaison, noch war ich anlässlich einer der beiden Meisterfeiern des FCSG auf dem Marktplatz zugegen.

Meine Erinnerungen an die Meistersaison sind entsprechend vage und episodenhaft. So kann ich mich daran erinnern, dass mich mein Vater eines Tages darauf aufmerksam machte, dass es dem FC St.Gallen in der aktuellen Saison ausnahmsweise super laufen würde, und ich daraufhin ein wenig erstaunt die Tabelle im Sportteil in der Zeitung studierte. Die Tabelle löste bei mir jedoch in etwa so viel Begeisterung aus wie eine Doppelstunde Zaubertränke bei Harry und seinen Freunden.

Ebenfalls erstaunt war ich damals über die weihnachtlichen Gesänge des grossen Bruders einer meiner Jugendfreunde mitten im Sommer. Er sang etwas von einem gewissen «Amoah», der geboren wurde und so viele Tore schiessen würde. Was es damit auf sich hatte, erschloss sich mir allerdings erst einige Jahre später, als der FCSG wieder im unteren Bereich der Tabelle zu finden war und mir die älteren Fans von diesem einen legendären, ghanaischen Stürmer und seinem Zauberfuss erzählten.

Bei Remo (Jg. 1987) waren es nicht nur die Spieler des FC St.Gallen, die einen bleibenden Eindruck hinterliessen, sondern auch ein gewisser Ermin Siljak:

«Ermin Siljak (11. Mai 1973, Ljubljana) ist ein ehemaliger slowenischer Fussballer. Der Stürmer, der 1996 den Titel des slowenischen Torschützenkönigs holte, gewann zweimal den slowenischen und einmal den Schweizer Meistertitel», schreibt Wikipedia. Der Wikipedia-Eintrag über ihn zeichnet das Bild eines treffsicheren Stürmers. Etwas aber fehlt: ein Hinweis auf sein allerwichtigstes Tor. Erzielt hat er es am 21. Mai 2000. In Minute 88 sicherte er Servette gegen Basel durch sein Tor zum 1:1 einen wichtigen Punkt.

Und dem FC St.Gallen die Meisterschaft.

Ich erinnere mich wohl unter anderen wegen dieses wichtigen Tores so gut an Ermin Siljak, diesen wendigen, flinken Stürmer, der wusste, wo das Tor steht. Mit 14 Jahren kannte ich die Spieler der Liga teils besser als heute. Dafür war ich im Feiern noch deutlich weniger geübt. So war ich denn auch keiner der zahlreichen Fans, die auf dem Marktplatz den zweiten Meistertitel des FCSG feiern durften. Ich packte stattdessen meine selbst gemalte grün-weisse Schachbrettfahne, ging in den elterlichen Garten und schwenkte sie, bis die Fahnenstange kaputt ging. Einige Nachbarn teilten meine Freude. Aus der Ferne waren Hupkonzerte zu hören.

Auch für Ruben (Jg. 1986) lagen St.Gallen – und damit auch die Feierlichkeiten auf dem Marktplatz – in weiter Ferne:

Ich würde gerne schreiben, wie ich vor 20 Jahren auf dem Marktplatz meinen Helden zugejubelt habe. Doch das tat ich nicht. Als 14-jähriger Toggenburger war St.Gallen in weiter Ferne und Ausflüge alleine dorthin eher nicht alltäglich. Zudem wollte mein Vater nicht für ein Spiel nach St.Gallen fahren, welches wir dort ohnehin auch nur auf einem Bildschirm hätten verfolgen können.

Damit war ich bei der Kulmination einer Saison nicht dabei, bei der ich so oft wie wohl beinahe nie im Stadion gewesen war. Auch auswärts. Ich erinnere mich an die 1:3-Niederlage in der Basler Schützenmatte zwei Runden zuvor, wo mich ein Basler Fan bat, doch bei der Choreo mitzumachen. Ich sass mit meinem Götti auf der Haupttribüne.

Ich erinnere mich an den 2:1-Auswärtssieg in Luzern, zu dem ich mit meinem Vater im Extrazug gefahren war. Der Extrazug hielt damals noch im Hauptbahnhof Zürich und in der mittlerweile abgeschafften Minibar wurden diverse alkoholische Getränke verkauft. Was in der Kombination dazu führte, dass ein älterer Mitfahrer den ganzen Hauptbahnhof wissen liess, dass GC nur zuschauen solle, wie das mit dem Meistertitel gemacht werde.

Und dann fehlte ich beim ersten Highlight der Saison. Noch heute nervt mich das. Der Meistertitel kam etwas zu früh. Das zeigte sich auch beim zweiten Highlight, der offiziellen Meisterfeier. Dort war ich zwar dabei, aber als 14-Jähriger Bier zu kaufen war schon damals schwierig.

Ganz andere Probleme hatte Roland (Jg. 1987). So wäre er wohl bereits zufrieden gewesen, wenn er – statt eines Biers – einen Fernseher zuhause gehabt hätte. Zum Glück besass sein Onkel einen:

Das Fussballfieber wurde mir nicht von meinen Eltern vererbt. Ich weiss nicht einmal, ob mein Vater je ein Spiel des FCSG gesehen hat. Im Fernseher haben wir die Spiele auch nie geschaut, wir hatten keinen. Ins Espenmoos mitgenommen hat uns jeweils mein Onkel. An mein erstes Spiel im Sektor Blau kann ich mich nicht erinnern. Es schien aber rückblickend definitiv Lust auf mehr gemacht zu haben.

Das Spiel Servette gegen Basel haben wir deshalb auch vor dem Fernseher bei meinem Onkel geschaut. Als der Ausgleich fiel, gab es kein Halten mehr: Ab ins Auto nach St.Gallen, der Marktplatz war das Ziel.

Ich war damals 13 und schwer beeindruckt. Und in der darauffolgenden Saison an jedem Heimspiel. Im Sektor Grün.

An einem Matchbesuch im Espenmoos war Oliver (Jg. 1995) damals definitiv noch nicht interessiert. Er hatte ganz andere Prioritäten:

Der FC St.Gallen ist Schweizer Meister, ich «gireizle» währenddessen ahnungslos auf einer Schaukel auf dem örtlichen Spielplatz. Vom «kleinen Sportwunder», wie der Tages-Anzeiger am nächsten Tag schreiben wird, kriege ich rein gar nichts mit; keine euphorisierte Mutter, kein euphorisierter Vater, keine Pushmeldung, kein SENF-WhatsApp-Gruppenchat. Ich bin 5 Jahre und 136 Tage alt, mein erster Espenmoosbesuch liegt noch in der Ferne.

Blicke ich heute via YouTube zurück auf die Meisterfeier, die ich selbst nicht miterlebt habe, löst die Berichterstattung des Lokalfernsehsenders bei mir eher Beklemmung als Freude aus: Der zigarrenrauchende Zelli, Partytiger Giorgio Contini, die Frisuren in Grünweiss – irgendwie ist mir diese feiernde Meute nicht ganz geheuer. Die verflogene Demut, der ausbleibende Misserfolg. Was ich sehe, hat mit dem FC St.Gallen, wie ich ihn kennengelernt habe, wenig zu tun. Bis sich Werner Zünd die TVO-Kamera vornimmt und im breitestem Rheintaler-Dialekt in die Kamera brüllt: «Me send di Beschte», nur um gleich zu relativieren: «Ide Schwiiz, i dere Saison.»

Auch Florian (Jg. 1996) kennt die Ereignisse des 21. Mai 2020 nur vom Hörensagen und träumt deshalb vom nächsten Meistertitel:

Meistertitel – ein wohlklingendes Wort in den Ohren aller FCSG-Fans. Zuletzt konnte ein solcher in der Ostschweiz dank des späten Ausgleichs von Servette in der Partie gegen den FCB im Jahr 2000 gefeiert werden. Das Tagblatt schrieb damals:  «Es feiert die Galerie, es bebt das Parterre.» Wie muss es sich wohl damals auf dem Marktplatz angefühlt haben?

Ich kann darauf leider keine Antwort geben, denn zu diesem Zeitpunkt schaukelte mich die Kinderwiege in den Schlaf. Deshalb habe ich meinen Vater nach seinen Erinnerungen an diesen Tag gefragt. Mit seinen Freunden habe er sich nach dem Spielende, eine grün-weisse Fahne in der Hand, auf den Weg in die Stadt begeben. Von allen Seiten seien Menschen herbeigeströmt, es wurde gefestet, es wurde gefeiert – die Ostschweizer Volkseele jubelte. Wie gerne wäre ich da selbst dabei gewesen.

20 Jahre später. Der FC St. Gallen ist aufgrund der aktuellen Pandemie seit einigen Monaten Tabellenführer. Mittlerweile bin ich der Kinderwiege entwachsen. Einschlafen lässt mich nicht das Schaukeln der Kinderwiege, sondern die Sehnsucht nach einem dritten Meistertitel.