Der nächste Rückschlag wartet immer

Am 13. Juni 1995 spielte der FC St.Gallen im letzten Spiel der Saison gegen den Abstieg. Es war das erste Spiel, das ich live im Espenmoos sah. Unzählige weitere kamen dazu. Doch so exemplarisch wie das erste war vielleicht keines mehr.

Vor 25 Jahren fiel Ostern auf den 16. April. Nicht, dass ich das noch gewusst hätte, aber das Internet weiss es. Nachgeschaut habe ich, weil ich vor 25 Jahren zu Ostern von meiner Tante ein Geschenk erhalten hatte, das mich nachhaltig prägen sollte: Einen Matchbesuch im Espenmoos.

Warum ich damals überhaupt ein Ostergeschenk erhalten hatte, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Es war in unserer Familie nicht Usus, an Ostern Geschenke zu machen. Meine ich zumindest in der Rückschau. Ich kann mich zumindest an kein einziges anderes Ostergeschenk erinnern. Das könnte aber auch daran liegen, dass keines eine so nachhaltige Wirkung entwickeln sollte, wie ebendieses Geschenk meiner Tante.

«Uf dä Sitzplätz cha mer doch gar nöd richtig fäne»

Bis zur Einlösung dauerte es dann nochmal fast zwei Monate. Am 13. Juni machten wir – Tante, Grossvater, Vater, Schwester und ich – uns auf ins Espenmoos. Ich würde lügen, würde ich sagen, dass ich detaillierte Erinnerungen an den Abend hätte. Hängen geblieben sind Erinnerungsfetzen.

Einer davon: Auf dem Weg zum Stadion – parkiert hatten wir auf diesem Niemandsland beim Bahnhof St.Fiden, das auch heute noch fast genau so brachliegt wie damals – waren meine 12-jährige Schwester und mein neunjähriges Ich entsetzt, dass es meine Tante offensichtlich ernst meinte, Stehplatzbillette zu kaufen. «Uf dä Sitzplätz cha mer doch gar nöd richtig fäne», meinte sie, stellte sich bei einem dieser Holzhäuschen in die Reihe und kaufte Stehplatzbillette. Damals fand ich, dass mein Ostergeschenk grad massiv an Wert verloren hatte. Heute finde ich: «Danke!»

Wir standen im Sektor Blau. Dort, wo jene standen, für die Fussball sitzend zu verfolgen keine Option war. Für die ein Zwischenruf, ganz egal ob «Hopp Sangallä» oder «Schiri, du Arschloch», dazu gehörte. Für die, die aber doch nicht hinter dem Tor stehen wollten. Weil die Sicht schlecht war oder weil dort oft die etwas roheren Fans standen. Vielleicht standen da auch die, für die ein Sitzplatz einfach zu teuer war.

Auf jeden Fall aber standen im Sektor Blau Fans, die zur legendären Espenmoos-Stimmung etwas beigetragen haben, ohne dass das ihre erklärte Absicht gewesen wäre. Sie waren einfach da, sie lebten mit, sie hielten sich manchmal zurück und manchmal nicht. Sie standen in diesem Sektor Blau, der dem heutigen Stadion fehlt. Der jedem modernen Stadion fehlt.

In der Zeit vor Smartphones

Der Sektor Blau war keine heile Welt. Vor 25 Jahren war das Fussballpublikum sowieso weiter weg von dem, was man ein gutes Umfeld für einen Heranwachsenden bezeichnen würde, als es heutige Stadionbesucher sind. Auch wenn uns immer und immer wieder das Gegenteil glaubhaft gemacht werden will. Wohl auch deshalb drehte ich mich – ich stand selbstverständlich unten am Zaun, um überhaupt etwas zu sehen – immer mal wieder um, um die Köpfe meiner Tante, meines Vaters und meines Grossvaters in der Menge zu erspähen.

Ich suchte in der faszinierenden und für mich völlig neuen Atmosphäre Sicherheit. Auf dem Land aufgewachsen, war St.Gallen eine Grossstadt. Gefährlich und wahnsinnig weit weg. Hier verloren zu gehen, wäre eine Katastrophe gewesen. Zumal in einer Zeit, in der mangels Smartphone die Losung jeweils war: «Wenn mer üs verlüret, gsehmer üs do wieder.» «Do» war dann wahlweise der Eingang, die WC-Anlagen, ein Imbissstand.

Vom Spiel weiss ich nichts mehr. Ich habe immer gestaunt, wie Fans jede Einzelheit ihres ersten Spiels aufzählen können. Grosschancen, Pfostenschüsse, Einwechslungen – ja überhaupt irgendwas zur Aufstellung: Ich kann mit nichts davon dienen, ohne zu schummeln. Eines blieb mir aber in Erinnerung: Der Gegner und das Resultat. Solothurn und 3:0. Seltsamerweise blieb das in meinem Kopf auch immer mit einem Aufkleber verknüpft, den es vor dem Spiel zu kaufen gab. Dabei weiss ich noch nicht mal mehr sicher, ob wir so einen gekauft haben. Ich kann mich nur daran erinnern, wie Verkäufer ums Stadion dafür warben, ebendas zu tun. Irgendwie war der Kauf des Aufklebers eine Möglichkeit, den FC St.Gallen zu retten.

Verstanden hatte ich das damals nicht. Mir war klar, dass es das letzte Spiel der Saison war. Mir war klar, dass der FC St.Gallen gewinnen musste, um in der Nationalliga A zu bleiben. Wie ein Aufkleber da helfen sollte, war mir ein Rätsel.

Jahre später habe ich mir aber die Mühe gemacht, das alles zu rekonstruieren. Erst da habe ich gemerkt, dass auch nach dem Spiel die sportliche Zukunft des FC St.Gallen noch nicht klar war. Den Verein plagten finanzielle Sorgen. Es war zwar noch nicht das wenige Jahre später allgegenwärtige «strukturelle Defizit» – die Rechnung konnten die Verantwortlichen um Präsident Hans Hurni ausgeglichen gestalten.

Es waren vielmehr Schulden in der Höhe von 1,6 Millionen Franken, die auf Geheiss der Liga um die Hälfte reduziert werden mussten. Und das, nachdem der Verein die Schulden bereits einmal halbiert hatte. Ende der Saison 1992/93 waren es gemäss Medienberichten noch rund 3 Millionen Franken gewesen. Das gelang vorerst nicht, die Lizenz wurde den Espen auch in der zweiten Instanz verweigert.

Hoffen auf Gnade

Ein Begnadigungsgesuch war die letzte Hoffnung des Vereins. Um das zu untermauern, wurden etliche Geldquellen angezapft. «Unter anderem soll das bogenförmige Dach über der Haupttribüne für 150'000 Franken als Werbefläche vermietet werden», schrieb «Der Bund» am 30. Mai 1995 in den Kurzmeldungen.

Geld, zumindest in der Buchhaltung, machte der FC St.Gallen auch über Anteilsscheine am Stadion, die er geschenkt erhielt. Finanziell sollte es am Ende reichen. Am 23. Juni gab das Nationalliga-Komitee Bescheid, dass der Club die Lizenz doch erhalte. Dazu beigetragen hatten sicher auch die Lizenzkleber. Wer einen solchen gekauft hatte, durfte zum letzten Spiel der Saison gratis ins Stadion. Bei jenem Spiel gegen Solothurn also.

In Unkenntnis davon, ob neben dem Platz die Rettung gelingt, musste an jenem Dienstagabend erstmal die Rettung auf dem Platz gelingen. Der FC St.Gallen hatte keine berauschende Saison hinter sich. Das Team um Urs Fischer beendete die Qualifikationsrunde auf dem zweitletzten Platz.

In der Auf-/Abstiegsrunde gelang nur der Start. Danach verbrachte man den Grossteil der restlichen Saison auf dem vierten Platz. Dem letzten Platz, der noch zur Teilnahme an der Nati A im kommenden Jahr berechtigte.

Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass es zu einem spannenden Saisonfinale kommen würde. Vor der zweitletzten Runde hatte St.Gallen nur einen Punkt Vorsprung auf das fünftplatzierte Kriens. Und in der Innerschweiz hatten die Espen in dieser zweitletzten Runde anzutreten. Und auch diesen einen Punkt Vorsprung hatte das Team nur, weil ein gewisser Mario Frick in der Runde davor in der 91. Minute den 1:1-Ausgleichstreffer gegen Servette geschossen hatte.

Zelli im Sturm und Gilewicz mit der Erlösung

Das Spiel in Kriens dürfte nichts für schwache Nerven gewesen sein. «Kriens 89 Minuten einen Schritt voraus – dann zerstörte Gilewicz den NLA-Traum» titelten die Luzerner Neueste Nachrichten. Kriens hatte nach Treffern in der 63. und 75. Minute 2:0 in Führung gelegen. Marc Zellweger in der 83. und Radoslaw Gilewicz in der 90. Minute schafften den Ausgleich. 1000 mitgereiste St.Galler Fans feierten den späten Punktgewinn auf dem Rasen des Kleinfelds.

Wie wichtig dieser Punkt gewesen war, zeigte sich drei Tage später. Die beiden letzten Kontrahenten um den Platz in der Nationalliga A – Kriens und Yverdon – gewannen. Kriens in Zürich, Yverdon in Bern. Sowohl der FCZ als auch YB waren schon sicher in der Nationalliga A. Ein Sieg war für St.Gallen deshalb Pflicht. Und die Espen erfüllten diese Pflicht, wenn auch nicht ganz ohne Mühe. Das frühe 1:0 durch Gilewicz baute Frick erst nach über einer Stunde aus. Gussnig erhöhte in der 84. Minute auf 3:0.

Für die Fans war die Sache klar genug, um nach exakt 90 Minuten das Feld zu stürmen. «Der Versuch des Schiedsrichters, die Partie noch zwei Minuten fortzusetzen war hoffnungslos», schrieb die NZZ am Tag darauf. Offenbar damals kein allzu grosses Problem. Der Schiedsrichter habe «kapituliert», steht in der erwähnten Zeitungsausgabe. «Der Freudentaumel im Lager des Platzklubs hatte geradezu lateinisches Ausmass angenommen.»

Das «strukturelle Defizit» als Begleiter

Auch an diesen Platzsturm kann ich mich nicht mehr erinnern. Vermutlich ging ich an diesem, meinem ersten Spiel im Espenmoos, einfach davon aus, dass das ganz normal sei. Dass es das nicht ist, habe ich schnell bemerkt. Dass eine solche sportliche und finanzielle Situation für den FC St.Gallen ziemlich normal ist, musste ich über die Jahre aber öfter feststellen, als mir lieb ist. Der Begriff des «strukturellen Defizit» wurde denn auch zum steten Begleiter in der Berichterstattung.

Und sportlich lief es ebenso selten rund. Zwei Abstiege und blamable Cup-Niederlagen sind da nur die offenkundigsten Einträge in dieses Buch der Rückschläge. «Uns FCSG-Fans gehts nur gut, wenns uns nicht gut geht», sage ich deshalb des Öfteren.

Trotz allem soll dieser Text kein Lamento sein. Kein «Wieso bin ich nur von diesem Club Fan»–Text. Ich durfte miterleben, wie der FC St.Gallen Meister wurde, und war in Moskau dabei, als die Espen Spartak bezwangen und in die Europa League einzogen. Wenn ich dafür in Bellinzona im Dauerregen eine Barrage-Niederlage hinnehmen und im eigenen Stadion ein 0:7 gegen Basel ertragen muss, nehme ich das gern in Kauf.

Je länger die Phase ohne Erfolg, je tiefer die Rückschläge, desto grösser sind die Emotionen in guten Zeiten. So wie in der aktuellen Saison, in der mit dem YB-Heimspiel ein einziges Spiel fast schon sinnbildlich für all das stand. Nach Rückschlägen rappelt sich St.Gallen auf, erholt sich, und all das in der vollen Gewissheit, dass der nächste Rückschlag bereits auf den Verein, sein Team und seine Fans wartet.

Und wer weiss, vielleicht gab es im ausverkauften Stadion beim Spiel gegen YB junge Fans, die zum ersten Mal im Stadion waren. Vielleicht werden diese in der Saison 2019/20 kein Spiel mehr sehen. Vielleicht gibt es in dieser Saison sowieso keine Spiele mehr.

Und vielleicht sagen diese jungen Fans in 25 Jahren dann, wie typisch doch dieses erste Spiel war: Läuft es dem FC St.Gallen einmal gut, wartet sicher schon der nächste Rückschlag.