Von der Zukunftshoffnung zum Judas

Als Davide Callà 2005 zum FC St. Gallen wechselt, stehen die Vorzeichen für seine Zeit bei den Espen gut. In der Ostschweiz steht man dem Transfer positiv gegenüber. Wie so oft kommt es jedoch anders als gedacht.

Es war eine Szene, wie sie in den letzten Espenmoos-Jahren oft vorkam: Nach einer schlechten Leistung und der daraus resultierenden Niederlage wollten einige Fans die Mannschaft hinter dem Stadion zur Rede stellen. Von der Mannschaft zeigte sich Captain Davide Callà. Doch für die Fans, die von den Spielern vor allem Einsatz und Kampf sehen wollten, war er die falsche Wahl. «Äs goht jo nöd um di», sagte einer. Dieser Satz steht exemplarisch für das Bild, das die Fans damals von Callà hatten. Ein Kämpfer, ein guter Fussballer, die Zukunftshoffnung für eine glorreiche Zeit, die anbrechen würde, wenn der FC St. Gallen erst einmal im neuen Stadion spielen würde.Ganz anders das Bild, das sich in den Folgejahren zeigen sollte. Wann immer Callà in St. Gallen auflief – jetzt für den Gegner – begleitete ihn ein Pfeifkonzert. Sprechchöre richteten sich gegen ihn und sein Umfeld.

Das Verdikt der Fans: Unverzeihbar

Callà war bei den Fans zum Sinnbild fehlender Vereinstreue geworden, zur Galionsfigur der Söldner, zum übelsten Auswuchs des modernen Fussballs. Er, der vom Verein getragen und in seinen schlechtesten Zeiten nicht fallen gelassen worden war, brach mit dem Club in dessen schlechtesten Zeiten. Unverzeihbar, das Verdikt der Fans.

Auf den ersten Blick erscheint die Zeit Callàs beim FC St. Gallen in der Tat wie die Blaupause für die in den Fankurven oft genutzte Judas-Metapher. Anfang 2005 wechselt Callà in die Ostschweiz, beim FCSG erhofft man sich viel vom Transfer. Und der Winterthurer enttäuscht nicht. Er wird zum wichtigen Teil der Mannschaft, später gar deren Captain. Als er sich im Sommer 2006 das Kreuzband reisst, ist das ein herber Verlust für den FCSG. Doch in St. Gallen will man weiterhin auf den Mittelfeldspieler setzen. Im Dezember 2006 – Callà ist immer noch rekonvaleszent – verlängern die Verantwortlichen seinen Vertrag vorzeitig bis Juni 2009. Ein Vertrauensbeweis der Clubführung, eine romantische Geste der Verbundenheit, die es in diesem Geschäft doch schon gar nicht mehr zu geben scheint.

Nochmal auf Anfang

Wenige Wochen später, im Januar 2007, bereitet sich Callà in Argentinien bereits auf die anstehende Rückrunde vor. Er reist schon vor dem Team nach Südamerika, will seinen Rückstand wettmachen. Doch noch bevor die Mannschaft zu ihm stösst, sitzt der damals 22-Jährige bereits wieder im Flugzeug zurück in die Schweiz. Erneut hat er sich am Knie verletzt. Erneut wird sich herausstellen, dass das Kreuzband gerissen ist. Aus seinem Comeback wird vorerst nichts, die Rehabilitation beginnt von Neuem.

Erst ein Jahr nach seiner vorzeitigen Vertragsverlängerung, die Hinrunde der Saison 2007/08 nähert sich bereits dem Ende, steht Callà wieder im Aufgebot und darf in der zweiten Halbzeit des Heimspiels gegen YB ins Geschehen eingreifen. Auch er kann nicht verhindern, dass die Espen mit 2:7 untergehen. St. Gallen kämpft zu diesem Zeitpunkt zum wiederholten Mal gegen den Abstieg. Trotzdem ist man im Osten der Schweiz optimistisch, das Ruder noch herumreissen zu können. Das liegt auch an Callà. Die NZZ beschreibt ihn als Hoffnungsträger. Und in der Tat bäumt sich der FCSG nochmals auf. «Die St. Galler Aufholjagd geht weiter», titelt das St. Galler Tagblatt am 3. März 2008 nach einem Sieg gegen Luzern. Und betont die Rolle Callàs, «der sehr gut, schon fast überragend war».

Der Captain verlässt das Schiff als Erster

Die Aufholjagd nützt jedoch nur bedingt. Zwar schafft es der FC St. Gallen vom letzten auf den zweitletzten Platz, in der Barrage steigen die Espen jedoch im letzten Spiel im Espenmoos ab. Callà weint bittere Tränen vor laufenden Kameras. Und wechselt kurz darauf zum Erzfeind Grasshoppers. Es ist der erste Abgang nach dem Abstieg. Der Captain verlässt das gesunkene Schiff als Erster. Für die Fans unverzeihlich. Nicht per se, weil ein guter Spieler in der obersten Liga bleiben will. Aber umso mehr, weil der FC St. Gallen in schwierigen Zeiten zu seinem Spieler gestanden ist und dieser das nun nicht zurückzahlt. «Die Worte Dankbarkeit und Verbundenheit haben im Profifussball keine Bedeutung mehr», schlussfolgert Tagblatt-Journalist Markus Scherrer.

Scherrer schreibt auch: «Wenn ein Verein aus der höchsten Liga ruft, ist der Abstiegsschmerz eben schnell vergessen.» Aus Callàs Sicht präsentiert sich die Situation natürlich anders. «Für mich ist das bis heute die grösste sportliche Enttäuschung meiner Karriere», sagt er im Oktober 2018 zum St. Galler Tagblatt. Aber: «Ich musste mich damals entscheiden – und ich entschied mich für einen kompletten Neuanfang.»

Und vielleicht liegt eben auch darin eine Erklärung für Callàs Abgang. Dass er überhaupt im Osten gelandet war – auch GC und andere Clubs hatten Interesse angemeldet –, lag vor allem daran, dass er sich Ruhe gewünscht hatte. «Ich war noch jung und hatte in den Jahren zuvor mehr mit Anwälten zu tun gehabt als mit Trainern», wird der Mittelfeldspieler in ebendiesem Tagblatt-Artikel zitiert. In den vier Monaten vor dem Wechsel zu St.Gallen habe er keinen Rappen Lohn gesehen, sagte er der NZZ am Sonntag im Februar 2005, kurz nach seinem Wechsel. Er freute sich darauf, dass ein «Vertrag eingehalten, nicht nur gelogen und betrogen» wird.

Vom Regen in die Traufe

Woher dieser Fokus kommt, ist offensichtlich. Callà spielt in Wil, als sich die Verantwortlichen dort auf den Ukrainer Igor Belanow einlassen. Ein Wagnis, das im Desaster endet – trotz des überraschenden Cupsiegs 2004. Callà verlässt wegen der finanziellen Probleme den Club im Juli 2004 und wechselt ausgerechnet zu Servette. Ein Wechsel, der als Sinnbild für das Sprichwort «vom Regen in die Traufe» dienen könnte. Sein Aufenthalt in der Westschweiz dauert nur gerade ein halbes Jahr. Marc Roger fährt den Club an die Wand. Schon bevor das Ende endgültig besiegelt ist, sagt Callà gemäss der Luzerner Zeitung: «Ich zweifle, dass Servette mir eine gute Zukunft bieten kann, die Vereinsführung verliert doch immer mehr an Glaubwürdigkeit.»

Wie sehr sich Callà in St. Gallen nach Ruhe sehnt, zeigt auch eine andere Episode. Nachdem der Mittelfeldspieler unter Ralf Loose als Verteidiger auflaufen muss, ist er damit gemäss Blick überhaupt nicht zufrieden. Die Boulevard-Zeitung berichtet von einem Machtkampf zwischen Captain und Trainer. Callà sieht sich als Opfer des Journalisten. Dieser habe seine Aussagen aus dem Kontext gerissen. Das öffentlich zu machen, soll Callà sehr wichtig gewesen sein, schreibt das Tagblatt.

Blütezeit der Übergangssaison

Doch die Ruhe, die Callà sucht, findet er auch in St.Gallen nicht. Das liegt einerseits an seinen beiden Verletzungen. Er habe dem Team danach nicht mehr gleich helfen können, sollte er im Rückblick sagen. Das liegt vor allem auch daran, wie der FC St.Gallen zu der Zeit aufgestellt ist. Es ist die Zeit der Missverständnisse an der Seitenlinie: Auf Heinz Peischl folgen Ralf Loose, Rolf Fringer, René Weiler und Krassimir Balakow.

Es ist auch die Blütezeit der Übergangssaisons. Das neue Stadion ist im Bau und soll ab Sommer 2008 für die Beseitigung aller Probleme sorgen. In der Führungsriege des Vereins sitzen Leute, die danach für die finanzielle Misere in den ersten Jahren im neuen Stadion verantwortlich gemacht werden. Natürlich äussert sich das auch in den Leistungen auf dem Platz. 2005 scheidet man in Küssnacht am Rigi nach einer miserablen Leistung aus dem Cup aus, 2007 blamiert man sich im UI-Cup gegen die Moldawier von Dacia Chișinău und in der gleichen Saison folgt das Cup-Out gegen Gossau und schliesslich der Abstieg in der Barrage gegen Bellinzona. Das stabile Fundament, das Callà in St. Gallen gesehen hatte, gab es nie. Und je länger Callà in St. Gallen ist, desto mehr bröckelt es.

Sprechen will er nicht

Vielleicht sieht Callà schon damals, dass auch das neue Stadion daran nichts ändern wird. Wir hätten es gerne mit ihm diskutiert. Unsere Gesprächsanfrage lehnte er jedoch ab. Über die Verantwortlichen des FC Winterthur, seines jetzigen Clubs, liess er ausrichten, er habe nicht das Bedürfnis, die Wahrnehmung seiner Person nach so langer Zeit zu korrigieren oder sich zu rechtfertigen. Vielleicht ist das jetzt auch nicht mehr nötig. Als Fussballer wird Callà kaum noch einmal in St. Gallen auflaufen. Es würde, sollte es doch noch mal dazu kommen, genau so sein, wie es sich Callà nie gewünscht hatte: unruhig.


Dieser Text erschien erstmals im SENF #11 «Legenden». Die Ausgabe ist hier weiterhin erhältlich.