Daten lügen nicht

Der FC St.Gallen war in der vergangenen Saison zu harmlos vor dem Tor und von den Aussenverteidigern kam offensiv zu wenig. Das lag aber nicht an ihnen, sondern an der Spielphilosophie. Wie das in dieser Saison besser werden kann, zeigt die Datenanalyse.


Dieser Artikel erscheint im SENF #14. Die Ausgabe erscheint am 12. August und kann in unserem Shop bereits vorbestellt werden.


Nach einer tollen Vorrunde geriet der FC St.Gallen in der Rückrunde der vergangenen Saison überraschend in Abstiegsgefahr. Der abgewendete Abstieg wird den Verantwortlichen Grund genug sein, die vergangene Saison selbstkritisch zu analysieren.

Die Ursache liegt nicht nur in den wenigen Toren wegen einer suboptimalen Chancenauswertung. Das Team von Peter Zeidler war über die ganze Saison gesehen vor allem viel zu wenig konstant. Das belegen die elf Siege, elf Unentschieden, aber auch 14 Niederlagen. Die Espen hatten zudem je zwei Durststrecken von fünf Spielen ohne Sieg.

Auch die hohe Belastung durch den gedrängteren Spielplan als Ursache zu nehmen, wäre viel zu einfach. Das Kader ist gegenüber den Young Boys und dem FC Basel sicherlich dünner besetzt. Die Breite und die Qualität des St.Galler Kaders hätten aber für einen oberen Mittelfeldplatz genügen sollen. Aber woran lag die bescheidene Leistung in der zweiten Saisonhälfte? Dafür müssen wir erst das System des FC St.Gallen analysieren.

Nicht lange hin und her verlagern

Im FC St. Gallen steckt drin, was die Verpackung verspricht. Darauf können die Fans vertrauen. Man bekommt ehrlichen, direkten und mutigen Vorwärtsfussball geboten, so wie es Präsident Matthias Hüppi, Sportchef Alain Sutter und Trainer Peter Zeidler zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit versprochen hatten. Die Verantwortlichen sind sich bewusst, dass es im Fussball auch um das Produkt geht; dass die Fans attraktiven Fussball sehen wollen.  

Da wird im Spielaufbau nicht Zone um Zone erobert. Da ist der Vorwärtspass kein Einzelgänger. Da wird nicht lange hin und her verlagert, bis sich eine Lücke auftut. Die junge Truppe stört ihre Gegner sehr hoch und sucht nach der Balleroberung den schnellen und direkten Weg zum Tor. Pressing-Balleroberung-Umschalten. Das Umschaltspiel ist oft eine Augenweide.

Pressing auf Champions League-Niveau

Das hohe Pressing ist ein Kernelement der Spielphilosophie des Vereins und von Peter Zeidler. Im Pressing sind die Ostschweizer mit einem Passes per Defensive Action (PPDA) Wert von 7,7 das Team, das in der Super League am aggressivsten presst. Das bedeutet, dass die Gegner im Schnitt nur 7,7 Pässe spielen können, bis eine St.Galler Defensivaktion erfolgt. Mit diesem Wert liegen die Ostschweizer auch europaweit ganz weit vorne. Auf Augenhöhe mit dem FC Bayern München, Paris Saint-Germain und dem FC Barcelona.

Der mutige Vorwärtsfussball spielgelt sich auch in den Dribbling-Werten wieder. Mit 34 Dribblings pro Spiel lagen die St.Galler in der vergangenen Saison noch vor den Young Boys und dem FC Lausanne-Sport, die an zweiter respektive dritter Stelle lagen.

Auch bei den Ballberührungen im Strafraum war der FC St. Gallen in der letzten Saison in der Liga vorne dabei. Die Espen waren die Mannschaft, die nach Luzern, Servette und den Young Boys, die meisten Ballberührungen im Strafraum hatte. Leider konnten diese nicht genügend in Tore umgewandelt werden. Die Ostschweizer haben nur am siebtmeisten Tore erzielt. In Bezug auf die erwarteten Tore (xG) lagen sie auf Rang 6.

Aber was bedeutet eigentlich xG? Die Abkürzung steht für «Expected Goals», erwartete Tore. Es ist eine Kennzahl, die die Qualität einer Torchance ausweist. Sie liegt immer zwischen 0 und 1. Ein Torschuss mit einem xG-Wert von 0,1 hat statistisch eine 10 Prozent-Chance auf ein Tor. Oder anders: Eine von zehn solcher Chancen landet im Tor. Dieser Wert wird anhand von historischen Daten und mathematischen Modellen berechnet. Aber einfach zusammengefasst wird jeder Torschuss analysiert und die Torwahrscheinlichkeit mit «identischen» Torschüssen aus der Vergangenheit verglichen.  

Wenig Offensivunterstützung von hinten

Die St.Galler haben in der vergangenen Saison mittelmässige 1,25 Tore pro Spiel erzielt. In der Torschützenliste ist zu erkennen, dass vor allem die Stürmer (Duah 9, Adamu 6, Youan 5) und die Mittelfeldspieler (Ruiz 6, Stillhart 4) trafen.

Ein Defizit bestand beim Offensivbeitrag der Aussenverteidiger. Sie beteiligten sich zwar am Offensivspiel, verzeichneten aber selber praktisch keine Vorlagen oder Torabschlüsse. Das lag aber nicht an den Aussenverteidigern, sondern an der Spielstruktur. Die Werte für Expected Assists (xA) der Aussenverteidiger lagen im Bereich von 0,1 pro Spiel. Das ist gleichbedeutend mit dem Erspielen von nur einer 100-prozentigen Torvorlage pro 10 Spiele. Ligaweit lag der FC St.Gallen damit weit hinter YB und dem Servette FC. Europaweit erreichten Teams mit einer Vierer-Verteidigung wie beispielsweise Gladbach, West Ham und Monaco rund fünfmal höhere Werte.

Mehr und besseren «mit dem Ball»-Fussball  

Was dem FC St.Gallen fehlt, ist die Variabilität und die Ausgewogenheit. Wie beim Essen der gute Mix zwischen salzig und süss. Der «gegen den Ball»-Pressing-Fussball ist eine gute und attraktive Wahl, doch haben sich die Teams immer besser darauf eingestellt. Die Espen brauchen aus unserer Sicht mehr strategischen Ballbesitz für den nächsten Entwicklungsschritt und für höhere Ziele. Es geht dabei nicht rein um die Erhöhung der Ballbesitz-Quote, sondern um mehr und besseren «mit dem Ball»-Fussball. Um den Spielstil mehr variieren zu können und den Gegner mehr zu dominieren. Um bewusst zwischen Umschaltmomenten und konstruierten Angriffen zu alternieren. Um den Ball länger zu haben und weniger von Einzelaktionen und vom Zufall abhängig zu sein. Dadurch könnten die St.Galler ihre Konstanz erhöhen. Denn: «Die Konstanz im Fussball, ist mehr von der Spielstruktur als von der Tagesform der Spieler abhängig.»

Noch werden zu viele lange Bälle nach vorne geschlagen. Nach welchen dann die Offensiven als Rudel Jagd auf die zweiten Bälle machen. Die Aussenverteidiger haben dadurch oft wenig bis keine Zeit, um nach vorne zu gelangen und sich in den Angriff einzuschalten.

Peter: Mach es wie Julian

Die Herausforderung bei der Erhöhung des Ballbesitzes ist es, dass mehr Ballbesitz das starke Gegenpressing schwächt. Denn sind die Spieler für den Ballbesitz gleichmässiger verteilt, können sich bei Ballverlust weniger von ihnen in die sofortige Balleroberung einschalten.   

Die gleiche Herausforderung hatte Julian Nagelsmann mit RB Leipzig. Er hat es aber geschafft, der «rangnickschen» Spielphilosophie die Komponente strategischen Ballbesitz hinzuzufügen, ohne das starke Gegenpressing zu schwächen. Die Lösung liegt in der bewussten und konsequenten Steuerung der Ballbesitz- oder Gegenpressingphasen. Entweder, oder. Nichts dazwischen.

Wie können sich die Transfers auswirken?

Die St.Galler rangierten in der letzten Saison bei der Chancenauswertung und den offensiven Kopfballduellen auf dem vorletzten Platz. Mit der Verpflichtung von Fabian Schubert von Blau-Weiss Linz aus der zweiten österreichischen Liga möchte man beides verbessern. Der grosse Mittelstürmer weist hervorragende Werte in der Chancenerarbeitung und -verwertung aus. Er hatte bei Linz Torchancen für 26,5 Tore (xG), erzielte aber 37. Seine Grösse spricht auch für eine stärkere Priorisierung des «mit dem Ball»-Fussballs. Es wird spannend zu beobachten sein, wie er sich in der stärkeren Liga einfügen wird. Positiv stimmt, dass er seine Effizienz schon über zwei Saisons bestätigt hat und er sich ausgezeichnet in eine Abschlussposition laufen kann.

Ein weiterer Neuzugang ist der RB Salzburg-Leihspieler Ousmane Diakité. Die Leihe von jungen talentierten RBS-Spielern ist zu einem bewährten Win-win-Modell geworden. Die Espen haben neben den guten Beziehungen nach Salzburg den Vorteil, über den ähnlichen Spielstil wie RB Salzburg zu verfügen.

Der Malier wurde geholt, um Jordi Quintillà zu ersetzen. Der junge defensive Mittelfeldspieler kehrt von einer langen Verletzungspause zurück. Seine Daten aus der Zeit beim Leihverein SC Altach zeigen bessere Dribblingwerte und ähnlich gute defensive Werte wie bei Quintillà. Ausserdem sind beide anhand ihrer guten Passwerte wichtige Schaltstationen im Spielaufbau.

Kann der FC St. Gallen mit diesen Transfers und einem leicht angepassten System die Schwachstellen ausmerzen und den «mit dem Ball»-Fussball verbessern, können wir uns auf eine tolle Saison freuen.


Fabrizio D’Agostino & Mirco Papaleo kombinieren auf dem Portal footballytics.ch Fussball- und Data Analytics-Kompetenzen. Damit möchten sie Fussballvereine beim Nutzen und Interpretieren von Daten unterstützen, um im Scouting und in der Spielanalyse bessere Entscheidungen zu treffen.

Dieser Artikel erscheint im SENF #14. Die Ausgabe erscheint am 12. August und kann in unserem Shop bereits vorbestellt werden.