Amoah auf der Kreuzbleiche

Ein übergewichtiger Kater flitzt über den Kreuzbleicheplatz – Hutters Amoah war ausgebüxt, wurde vom Goalie des FC Fortuna aber gleich wieder eingefangen.

Hutter machte sich Sorgen um Amoah und Rubio. In letzter Zeit verkrochen sie sich tagelang irgendwo in der Wohnung und machten sich nur noch bemerkbar, wenn Hutter den Kühlschrank öffnete. Dann sausten sie in die Küche, schlichen mauzend um den Futternapf herum und warteten ganz selbstverständlich, bis Hutter ihn bis zum Rand mit leckerem Katzenfutter füllte. – Die beiden Glücksbringer waren eindeutig übergewichtig. In keinem Sportteam auf der Welt hätten sie in dieser Form Aussicht auf einen Stammplatz. Vor ein paar Tagen hatte Amoah dazu noch zu hinken begonnen und nun humpelte er wie ein alter, müder Kater in der Wohnung herum.

«Machst du Urlaub mit deinen beiden Kampfkatzen?» – Mock hatte heimlich von der Wohnungstür aus beobachtet, wie Hutter den Katzenkorb mit einer Zeitung und einem grün-weissen Kissen auspolsterte. «Wohin geht die Reise?» – Hutter reagierte überhaupt nicht auf Mocks penetrant gute Laune und antwortete knapp: «Ich habe mit Amoah einen Termin beim Tierarzt, draussen bei der Kreuzbleiche. Wenn du dich im Wartezimmer anständig benimmst, darfst du mich sogar dorthin begleiten.» - Die meisten Passanten in der Marktgasse begannen zu schmunzeln, sobald sie Hutter, Mock und Amoah erblickten: Eine lange schmächtige Figur und zwei Freunde des guten Essens waren zielstrebig unterwegs Richtung Bushaltestelle.

Der 7er kam sofort. «Mock, weisst du eigentlich, wo das St.Galler Fussballerherz am heftigsten schlägt?» – Mock verzog das Gesicht und nun antwortete er kurz angebunden: «Hutter, fang nicht schon wieder damit an: Der Fussball lebt dort, wo er mit Hingabe, langem Atem und mit kühlem Kopf gepflegt wird. Und ob das nun im Espenmoos, im Grüninger-Stadion oder in der AFG Arena eher der Fall ist, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Hauptsache, auf und neben dem Platz setzen sich ein paar gute und intelligente Menschen für ihren Klub ein.» Hutter hatte den Umzug vom Espenmoos nach Winkeln noch immer nicht verarbeitet. Und Mock war es leid, mit ihm immer wieder darüber zu diskutieren, ob die grün-weisse Klubseele denn jemals den Weg über die Sitter hinaus in die kalte, neue Heimstätte finden würde.

«Hier Mock, hier ist das Kraftzentrum des St.Galler Fussballs! Hier hat 1879 alles begonnen!» – Hutter stellte seinen Katzenkorb auf die morastige Wiese neben der Kreuzbleiche-Halle und blieb wortlos und ernst daneben stehen. Amoah miaute. «Hutter, du bist ein liebenswerter Träumer. Aber vom Leben hast du keine Ahnung. Komm mit, ich zeig dir etwas Schönes!» – Mock führte Hutter an spielenden Kindern vorbei zum Fortuna-Platz. Er kaufte in der Hammerhütte zwei Becher Bier, pflanzte sich hinter dem Tor auf und begann das laufende Spiel lautstark zu kommentieren. «Penalty? Dass ich nicht lache, Schiri, kauf dir eine Brille.» Mock tobte, als ein übergewichtiger Verteidiger des Gegners einen wieselflinken Fortuna-Stürmer schwer verletzte. «Holt den vom Platz, bevor er alles niederwalzt und ihm die Hose platzt!» Er tröstete einen gegnerischen Stürmer, der unglücklich mit dem Fortuna-Keeper zusammengeprallt war.

«Mock, du kommst vom Land und kennst alle hier. Wie machst du das bloss?» – «Langjährige Kontaktpflege, Hutter. Gegen die alten Säcke rund um uns herum habe ich doch schon als Junior gekickt, und die Jungs auf dem Platz habe ich als Trainer kennengelernt. Darum gehts ja gerade, man muss wach und neugierig durchs Leben gehen.» – «Mock, warum bist du eigentlich nicht Fussball-Pfarrer geworden?  Du predigst besser als Pfarrer Sieber.» Mock war unsicher, ob sich Hutter nun plötzlich über ihn lustig machte und wartete ein paar Sekunden, bis er antwortete. «Ich bin nicht so blöd und blind, wie du denkst. Ich weiss, dass sich im Fussball genau gleich viele Heilige und Schurken herumtreiben wie anderswo auch. Und jeder Verein kann nur hoffen, dass er verschont bleibt vor Hochstaplern und Träumern. Aber davon lebt der Fussball: Dass du nicht weisst, wie das Spiel ausgeht. Es ist wie sonst im Leben auch, bloss etwas spannender und aufreibender.»

Hutters Katzenkorb wurde von einer Kinderschar belagert. Das Spiel war gelaufen; Fortuna hatte in der zweiten Halbzeit einen sicheren 4:1-Vorsprung vorgelegt. Dann gabs mitten im Kinderknäuel einen Aufschrei: Ein schwarzer Pelzblitz sprang aus dem Katzenkorb aufs Spielfeld und flitzte wie eine Flipperkugel durch den Strafraum Richtung Anstosskreis und in einem Flügellauf zurück Richtung Tor. Alle blickten gebannt. Für einen Moment war es, als hätte ein unsichtbarer Regisseur den Spielfilm auf der Kreuzbleiche angehalten. Die Spieler stoppten den Ball. Amoah zog elegant von links Richtung Elfmeterpunkt, wo er sich aber plötzlich niederlegte und wartete, als würde gleich eine Riesenmaus aus dem Rasen auftauchen. Der Fortuna-Goalie reagierte souverän, hob Amoah liebevoll und bestimmt auf, trabte mit ihm hinter das Tor und legte ihn zurück in den Katzenkorb, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Das Publikum applaudierte, der Schiedsrichter schaute auf die Uhr und pfiff die Partie ab.

Hutter und Mock mussten sich vor der Hammerhütte bissige Kommentare anhören: «Beim Zirkus Knie suchen sie Raubtierwärter, wollt ihr euch nicht dort bewerben?» Mock liebte diese Sprüche, den Spott und die Rivalität zwischen den Anhängern der kleinen Klubs. Diese wussten genau, dass keiner von ihnen je die Champions League gewinnen würde, aber sie träumten alle vom Aufstieg in die zweite Liga. Vor dem Fortuna-Klublokal blieb Mock plötzlich stehen: «Vergiss den Tierarzt, Hutter! Amoah ist gesund. Das hat er auf dem Spielfeld bewiesen. ­­- Darauf müssen wir anstossen!»

Die Geschichten von Hutter & Mock waren über Jahre fixer Bestandteil der St.Galler Matchvorbereitung. Die ersten 37 Folgen bis zum Abschluss der Rückrunde der Saison 2003/04 sind in einem Sammelband im Saiten-Verlag erschienen. Die nachfolgenden Episoden sind in jeder Ausgabe des SENF – die erste im SENF #02 – sowie auf dieser Webseite zu finden. Mit dem Ende der Saison 2005/06 endeten auch die Geschichten von Hutter & Mock. Mit zwei Ausnahmen: Für unsere Jubiläumsausgabe im Sommer 2018 griff Daniel Kehl nochmal in die Tasten. Und schon im Jahr 2010 tat er das für ein Jubiläum, für die 100-Jahr-Feier des FC Fortuna. Diese Episode veröffentlichen wir hier.​​​​​​​